Okt 072020
 

Ergänzungen zu einer befugten Kritik

Opportunisten haben keine Grundsätze. Na gut, einen doch. Marx tat uns den Gefallen, ihn mal zu formulieren: »Those are my principles, and if you donʼt like them – well I have others« (Groucho natürlich, nicht Karl). Indessen muss dieser eine Grundsatz, der dann doch vorhanden ist, bei Strafe der Unglaubwürdigkeit verleugnet werden. Der Opportunist bekennt sich fortwährend zu Dingen, an die er nicht glaubt, zu der einen Sache aber, an die er glaubt, darf er sich nicht bekennen. Und was für die Gegenwart gilt, gilt auch für die Vergangenheit: Das Umdeuten der eigenen Biographie wird dann folgerichtig. Der orthodoxe Opportunist will schon immer genau das vertreten haben, dem er sich grad eben erst unterworfen hat. Continue reading »

Feb 082020
 

Geschichte wiederholt sich nicht nicht – Ein paar Takte zu Thüringen

Wer untot ist, ist noch nicht tot. Aber er lebt auch nicht mehr, und wer nicht lebt, tut besser daran, gleich ganz weg zu sein. Wenn er dann auch nichts ausrichtet, es entsteht zumindest Platz für Befugteres. Die Linke hatte den Zustand ihrer Untöte erreicht, seit sie begann, sich die Sorgen der Mitte zu machen. Ich will sie gar nicht tot, ich will sie wieder lebend. Wie reanimiert man einen Zombie? Continue reading »

Nov 152019
 

Das Übel um Sahra Wagenknecht begann lange vor ihrer neurotischen Jagd auf dusslige Wählerstimmen, die die Linke in einer Zeit, da rechterseits noch keine selbstbewusste Kraft etabliert war, ohnehin immer nur geborgt hatte. Es begann Ende der Neunziger Jahre, als Wagenknecht den Leninismus entsorgt und die kommunistische Opposition innerhalb der PDL zerschlagen hat. An deren Stelle trat zunächst ein diffuser Antiimperialismus und schließlich ein nach rechts offener Populismus. Immer stramm mit der Zeit, denn wo Schröder und Chirac 2003 den Antiamerikanismus nutzbar machten, durfte man den Anschluss genau so wenig verpasst haben wie 2015 beim Ruck nach rechts, der bis heute das Denken und die politischen Zuordnungen verwirrt.

Continue reading »

Okt 102019
 

Zur Spaltung der real existierenden Ideologiekritik[1]

Ich kann keine Karikaturen malen. Das mag daran liegen, dass ich überhaupt nicht malen kann. Könnte ichs, brächte ich folgendes aufs Papier: Ein Mann hält vom Podium einer Pressekonferenz eine Phantomzeichnung in die Luft. Die Zeichnung zeigt ein Gesicht, das dem des Mannes aufs Haar gleicht. Darunter in Anführungszeichen: »Wir fahnden nach diesem Mann.« Die Karikatur könnte den Titel »Ideologiekritik« tragen, würde aber auch so, denke ich, nicht verstanden werden. Die Sache allerdings hätte einen Vorteil. Ich könnte jetzt aufhören. Continue reading »

Mai 282019
 

Zur politischen Intention des Märchens »Liebkind im Vogelnest«[i]

Der junge Mann heißt Leberecht, das Mädchen Liebkind, der Hund heißt Kasper. Wir haben, wie so oft bei Hacks, eine Dreiteilung. Und wie ebenfalls üblich bedeutet diese hier wieder was Eigenes. Selten hat Hacks dieselbe ideelle Konstruktion zweimal verwendet, so dass man seine Werke nicht nach stets demselben Schema deuten kann. Auch »Liebkind« lockt den routinierten Hacks-Leser ein wenig auf die falsche Spur. Einiges erkennt man sogleich, doch dann schaut man wieder hin und sieht, es geht noch um mehr. Continue reading »

Apr 302019
 

»Streik«

Der deutsche Verleihtitel fällt gegen den französischen »En Guerre« ein wenig ab; indessen stellt er sich dem Erbe Eisensteins. Dieser Bezug lag nahe. Stéphane Brizé, der bereits in »Der Wert des Menschen« wider den Kapitalismus dröhnte – auf Augenhöhe hierbei mit Werken wie »Stürmische Ernte«, »Shoplifters«, »Glücklich wie Lazzaro« oder »In den Gängen« –, greift auch in »Streik« zum erprobten Mittel der Konzentration auf eine Figur. Gewiss ist der Film breiter angelegt, vor allem im Dialogischen; gut erzählt ist er trotzdem. Continue reading »

Mrz 122019
 

Mir sind vier Witze eingefallen, drei davon waren sogar gut. Dann hab ichs gelassen. Ein wenig Mitleid mit Wagenknecht ist da schon. Nicht der Scheiße wegen, die sie gebaut hat und künftig etwas weniger hoch türmen will, sondern weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man k.o. ist. Aber k.o. sein ist kein sittlicher Wert. Das Elend an Wagenknecht waren nie ihre Irrtümer. Es war, dass ihre Irrtümer bereits Korrekturen gewesen sein wollen. Ob ein Unsinn als Unsinn oder als Korrektur des Unsinns auftritt, scheint mir nicht gleich.

Continue reading »
Mai 102018
 

»Der Buchladen der Florence Green« von Isabel Coixet

Eine weibliche Stimme berichtet, Jahrzehnte zurückblickend, von den Begebenheiten um die Buchhändlerin Florence Green: »Sie sagte mir mal: Wenn wir eine Geschichte lesen, bewohnen wir sie. Der Einband eines Buchs ist wie ein Dach und vier Wände.« Die Sprecherin zitiert die Heldin des Films, die ihrerseits den Schriftsteller John Berger zitiert, der sich seinerseits auf Diderots theatralische Theorie bezieht. Diese Intertextualität der dritten Stufe ist mehr als bloß Fanservice für das mutmaßlich bibliophile Publikum des Films. Jene vier Wände bedeuten das Wesen von Fiktion überhaupt, die nur dort bestehen kann, wo sie sich selbst verleugnet, und das Denken in Zitaten scheint die natürliche Ausdrucksform einer Leseratte, die von Buch zu Buch kommt, es zwar bewohnen, aber nie ganz besitzen kann. Continue reading »

Mrz 262018
 

Ideologiekritik und der Tritt in den Abgrund

Ich kann keine Karikaturen malen. Das mag daran liegen, dass ich überhaupt nicht malen kann. Könnte ichs, brächte ich folgendes aufs Papier: Ein Mann hält vom Podium einer Pressekonferenz eine Phantomzeichnung in die Luft. Die Zeichnung zeigt ein Gesicht, das dem des Mannes aufs Haar gleicht. Darunter in Anführungszeichen: »Wir fahnden nach diesem Mann.« Die Karikatur könnte den Titel »Ideologiekritik« tragen, würde aber auch so, denke ich, nicht verstanden werden. Die Sache allerdings hätte einen Vorteil. Ich bräuchte hier nicht weiterzureden. Continue reading »

Apr 272017
 

Sigmar Gabriel, der in Israel auf genau die Weise gedemütigt worden ist, die er verdient und nebenbei gesagt auch provoziert hat, dieser Gabriel hat jetzt nachgelegt: »Sozialdemokraten waren wie Juden die ersten Opfer des Holocaustes«, lässt er sich in der Frankfurter Rundschau vernehmen. Es gibt Dinge, die bringt nur er fertig. Sich auf Reise in Israel mal eben als Mit-Opfer des Holocausts ins Gespräch bringen zum Beispiel, und mit Rücksicht auf die ihm (nicht nur in diesem Zusammenhang) eigene Chuzpe muss man fast dankbar sein, dass er nicht noch »wie übrigens auch die« geschrieben hat. Continue reading »

Jan 302017
 

Die Revolution und die Nachgeborenen

Eine Revolution ist ein Anfang, ein Revolutionär ein Anfänger. Anfänge stinken, und das liegt nicht bloß an den Anfängern. Man begreift die Revolution besser, wenn man die Revolutionäre vor der Tür lässt. Das Ende des Anfängers Fidel Castro kann ein Anlass sein, genau das zu tun. Revolutionen passieren, und jeder weiß, warum sie passieren. Irgendwas müssen sie an sich haben, das die Nachgeborenen immer wieder zu jenen seltsam unzureichenden Urteilen veranlasst. Continue reading »

Jan 122017
 

Das Unvorstellbare bleibt unvorstellbar, auch wenn man es verwirklicht. Es wird ja nur real, und Sein, folgen wir Kant, ist keine Inhaltsbestimmung. Der Verschnitt der Linken durch Sarah Wagenknecht zeugt vor allem deswegen so wenig Widerstand, weil Machtlosigkeit für Linke eine offene Wunde ist. Continue reading »

Dez 222016
 

Opportunismus und Reife

Wahrscheinlich ist es ein Fehler, beim Opportunismus immer gleich an Diederich Heßling zu denken. Er ist zwar stumpfsinnig und eine Petze, doch der eigentliche Opportunist ist Napoleon Fischer, der schlaue, der witzige, der durchaus nicht servile. Opportunismus ist Verrat, Opportunismus ist Fall. Es kann nur Opportunist sein, wer einmal Idealist gewesen ist. Erst dort, wo eine politische Idee verwirklicht werden soll, wo einer was will, das über das Bestehende hinausweist, geht von Opportunismus zu sprechen. Keine Destruktion ohne Konstruktion. Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, sagt Helmut Schmidt und trifft damit auf verdrehte Weise. Wer Visionen hat, hat immerhin noch einen Grund, den Arzt aufzusuchen; wer keine Visionen hat, braucht nicht deswegen nicht zum Arzte zu gehen, weil er etwa gesünder wäre, sondern er kann sich den Besuch schenken, weil er schon lange tot ist, ehe er stirbt. Continue reading »

Dez 182016
 

Ein Klassiker mittlerweile ist auch die Klage darüber, wie sehr die Titanic sich doch verändert habe. Mitunter wird dieser Stoßseufzer der beengten Seele begleitet von der etwas scheinheiligen Frage, ob Satire vielleicht doch nicht alles dürfe, oder von derselben Intention, nur noch verdruckster, nämlich der Aussage, dass Satire ganz gewiss alles dürfe, sich jedoch disqualifiziere, wo sie gewisse Geschmacksgrenzen sprengt oder dumm ist oder ungerecht oder einfach zufällig irgendwas lächerlich macht, was der vorgeblich kategorische Kritiker persönlich gern hat.  Continue reading »

Sep 092016
 

»Pride« spielt im Gestern und handelt von heute

(keine Rezension)

Man kann »Pride«, diese sehr britische Komödie, nicht sehen, ohne sich in manchen Momenten enerviert im Sessel hin und her zu wälzen. Man möchte auf Pause drücken, lässt es doch, füllt Whisky nach und schaut kopfschüttelnd weiter. Und einen Moment später schafft der Film spielend, einem die Tränen in die Augen zu treiben. Weils so schön ist, und so traurig. Und gelungen. Obwohl er kitschig ist und naiv, weil er kitschig ist und naiv. Ich rede also von einem wirkungsvollen Stück Kino. Da der Plot ohne Naivität nicht funktionieren könnte und der Film andernfalls Gefahr liefe, in gnadenlos verlaberten, analytisch aufgepumpten Szenen zu ertrinken, tut er gut daran, diese Naivität auch gleich hemmungslos einzusetzen. Continue reading »