Sep 262019
 

»Gelobt sei Gott«

Wie die Genrebezeichnung lässt sich auch das Thema eines Kunstwerks als Vertrag mit dem Publikum verstehen. Gewiss kann man Verträge brechen, und mitunter liegt genau dort der Reiz. Nur gibt es Zusammenhänge, da gehört sich das einfach nicht. Wo ein Film als Film für die Opfer antritt – wo es also nicht ums Investigative und nicht um den modus operandi des Täters geht –, dort sollte er dann auch wirklich von den Opfern handeln. Das große Drama »Spotlight« (2015) war, bei aller Sensibilität, eine Missbrauchs-Exploitation, um seinem eigentlichen Thema, dem investigativen Journalismus Huld zu tun. »Utøya 22. Juli« (2018) blieb dagegen strikt in der Perspektive der Opfer, geriet aber zum Festspiel der Eitelkeit, das den gesetzten Zweck sabotiert. »Gelobt sei Gott« nun ist nichts weniger als ein Lehrbeispiel. Eines Films nämlich, der sich durch seinen guten Zweck nicht zu falschen Mitteln verführen lässt. Continue reading »

Sep 202019
 

Der Irrsinn dieser Tage lässt sich in einen Satz fassen: Die Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot-Fraktion und die Das-Boot-ist-voll-Fraktion werfen sich gegenseitig ihre Dummheiten an den Kopf und begründen in der gemeinsamen Annahme, dass ein Drittes nicht gegeben sei, ihre furchtbare Doppelherrschaft über alles andere. Continue reading »

Jul 272019
 

»Ein ganz gewöhnlicher Held«

Im Mittelpunkt des Dramas steht ein Mann, der eine zweite Chance erhalten hat. Die Rede ist von Stuart Goodson, der eine Zeit lang obdachlos war und heute in einer öffentlichen Bibliothek arbeitet. Die Rede könnte auch sein von Emilio Estevez, der Stuart Goodson erdacht hat und ihn selbst spielt. Er, der im Kino nach frühen Erfolgen lange nicht mehr vorkam, kehrt jetzt zurück, beinah als Wiedergänger seines Vaters Martin Sheen, dem er nicht bloß ähnlicher sieht denn je, dessen Würde und Ernsthaftigkeit in sein Spiel eingegangen scheint. Estevez verkörpert die sanfte Unerbittlichkeit Stuarts so gut, dass der Realismus der Handlung an keinem Punkt Schaden nimmt. Continue reading »

Jul 092019
 

»Kursk«

So eigenartig, dass Thomas Vinterberg sich überhaupt dieses Stoffes bemächtigt, so folgerichtig scheint, dass er – wenn nun schon einen U-Boot-Film – gerade diesen dreht. Das Genre hat bislang wenig Gediegenes und eigentlich immer dasselbe hervorgebracht. Meist geht es um eine Art Duell, den Kampf eines Mannes gegen einen anderen oder gegen eine übermächtige Flotte. »Duell im Atlantik« (1957), »U 23« (1958), »Das Boot« (1981) oder »Jagd auf Roter Oktober« (1990) erzählen diesen Kampf ganz konventionell, während »Crimson Tide« (1995) und »Black Sea« (2014) das Duell immerhin schon ins Innere des U-Boots verlegen. Wo diese Art Helden gezeugt werden, kann gedankliche Tiefe selten mit der ozeanischen mithalten. Continue reading »

Jun 072019
 

»Push – Für das Grundrecht auf Wohnen«

Wohnen, so viel weiß jeder, ist längst zum größten Problem all jener Menschen geworden, die nicht wenigstens der gehobenen Mittelklasse angehören. Wenn etwa die Hälfte des Einkommens für Miete abfällt, stimmt was nicht. Zur Aufklärung der genaueren Zusammenhänge leistet Fredrik Gerrtens Dokumentation »Push« Unwahrscheinliches, indem sie dem Publikum sichtbar macht, was selbst routinierten Verächtern des Kapitalismus noch eine Nachricht wert sein müsste. Schon eigenartig dann, und fast ein Kunststück, dass dieser wertvolle Film am Ende des Abends doch mehr schadet als nützt. Er hat eine große Tendenz, und die besteht darin, sich der einen großen Tendenz zu verweigern. Continue reading »

Mai 282019
 

Zur politischen Intention des Märchens »Liebkind im Vogelnest«[i]

Der junge Mann heißt Leberecht, das Mädchen Liebkind, der Hund heißt Kasper. Wir haben, wie so oft bei Hacks, eine Dreiteilung. Und wie ebenfalls üblich bedeutet diese hier wieder was Eigenes. Selten hat Hacks dieselbe ideelle Konstruktion zweimal verwendet, so dass man seine Werke nicht nach stets demselben Schema deuten kann. Auch »Liebkind« lockt den routinierten Hacks-Leser ein wenig auf die falsche Spur. Einiges erkennt man sogleich, doch dann schaut man wieder hin und sieht, es geht noch um mehr. Continue reading »

Mai 172019
 

Auf Fragen, die man erst haben kann, wenn man den Film gesehen hat

Ein spekulativer Inhalt kann nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden, schreibt Hegel. Gibt es Grenzen des spekulativen Zugangs? Oder konkreter gefragt: Ist die Shoa spekulativ zu denken?

Es gibt Gegenstände, die nicht im spekulativen Zugriff aufzuheben sind. Weniger aus theoretischen Gründen, sondern weil es sich moralisch verbietet. Dass dem Antisemitismus keine produktive Seite abzugewinnen sei, versteht sich praktisch und muss nicht begründet werden. Für Antisemiten ist die Begründung nicht möglich, für Nicht-Antisemiten ist sie nicht nötig. Continue reading »

Mai 112019
 

Weiterführendes zur Idee der Enteignung

Die sogenannte Debatte um die Enteignung scheint fast vollständig von Personen geführt zu werden, die keinen Begriff von oder kein Interesse an Enteignung haben. Gern auch beides. Wenn eine Fraktion der bürgerlichen Gesellschaft mit einer anderen darüber streitet, ob oder wie sehr dieser oder jener zu hoch gewordene Haufen Privatbesitzes abgetragen werden darf, wird es Zeit, dass von zuständiger Seite ein paar Handreichungen erfolgen. Bitte schnallen Sie sich an und stellen das Rauchen ein. Continue reading »

Apr 302019
 

»Streik«

Der deutsche Verleihtitel fällt gegen den französischen »En Guerre« ein wenig ab; indessen stellt er sich dem Erbe Eisensteins. Dieser Bezug lag nahe. Stéphane Brizé, der bereits in »Der Wert des Menschen« wider den Kapitalismus dröhnte – auf Augenhöhe hierbei mit Werken wie »Stürmische Ernte«, »Shoplifters«, »Glücklich wie Lazzaro« oder »In den Gängen« –, greift auch in »Streik« zum erprobten Mittel der Konzentration auf eine Figur. Gewiss ist der Film breiter angelegt, vor allem im Dialogischen; gut erzählt ist er trotzdem. Continue reading »

Apr 092019
 

Greta Thunberg und die Widerstandsgymnastik

Soweit es Greta Thunberg betrifft, sind hemmungsloses Einprügeln und joviale Bewillkommnung, die ihr wechselweise in den Zeitungen zuteilwerden, offenkundig dasselbe. Das zornige Mädchen soll absorbiert werden, und wo man ahnt, dass es nicht korrupt ist, offen bekämpft. Greta ist gewiss nicht anmaßender, als Kinder im Alter von 16 Jahren sein müssen. Allein, wer ihr über den Kopf streichelt oder eine veritable Gefahr in ihr ausmacht, kann sich seinerseits nicht auf jene Unschuld herausreden. Wir sprechen von schlecht gereiften Jahrgängen, denen gegen den Strich geht, ein Mädchen sich ermannen und ein Kind sich ermächtigen zu sehen. Die freche Raumnahme, das selbstbewusste Lächeln, der dreiste Glaube, simpel im Recht zu sein – das erinnert, was man selbst gern noch hätte. Für jene war das Älterwerden tatsächlich bloß eine Art Ausdünsten. Wenn man Frechheit von Dummheit abzieht, was bleibt dann noch? Was sie Greta voraushaben wollen, sei Reife, es ist aber bloß Trägheit.

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Mrz 182019
 

Und gelegentlich wird jemand erschossen: »Wintermärchen«

Der Titel drängt sich auf. Man denkt an Deutschland, Heine, das dumme Sommermärchen von 2006 und müsste noch am ehesten jenes kaum bekannte, späte Drama Shakespeares erinnern, worin gleichfalls das Politische hinterm Persönlichen verschwindet. Denn das passiert in diesem Film, und allein seine Atmosphäre – die hektische Kameraführung, die karge Beleuchtung, worin der Eindruck eines nie enden wollenden Novembers entsteht – wird dem Titelmotiv gerecht. Der Rest hängt so im Raum.

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Mrz 122019
 

Mir sind vier Witze eingefallen, drei davon waren sogar gut. Dann hab ichs gelassen. Ein wenig Mitleid mit Wagenknecht ist da schon. Nicht der Scheiße wegen, die sie gebaut hat und künftig etwas weniger hoch türmen will, sondern weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man k.o. ist. Aber k.o. sein ist kein sittlicher Wert. Das Elend an Wagenknecht waren nie ihre Irrtümer. Es war, dass ihre Irrtümer bereits Korrekturen gewesen sein wollen. Ob ein Unsinn als Unsinn oder als Korrektur des Unsinns auftritt, scheint mir nicht gleich.

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Feb 202019
 

»Vice – Der zweite Mann«

Es beginnt 1950 in Wyoming, wo die Welt nicht heil, aber noch in Ordnung war. Der Landarbeiter Dick Cheney gerät betrunken in eine Polizeikontrolle. Es ist der Moment, in dem sich sein Leben ändert. Seine Frau Lynne stellt ihn vor die Wahl: Entweder mache er was aus sich, oder sie werde ihn verlassen. So lernt er bei Donald Rumsfeld das Handwerk einer Politik ohne Inhalt. Ein halbes Dutzend Wahlperioden später erkennt er in George W. Bush einen gut zu führenden Frontmann, hinter dem er als Schattenpräsident das Land regieren kann. Dick trifft auf Doof, das ist die Lesart.

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Jan 312019
 

»Green Book«

Man könnte das Ganze für eine lustvoll verkehrte Adaption von »Miss Daisy und ihr Chauffeur« (1989) halten, wenn der Stoff nicht historisch wäre. Tatsächlich hatte der von Mahershala Ali verkörperte Pianist Don Shirley den von Viggo Mortensen nicht minder genial gespielten Arbeiter und Kleinganoven Tony Lip im Herbst 1962 für eine Tournee durch den Süden der USA als Fahrer engagiert. Und tatsächlich wurden beide dadurch und hernach Freunde fürs Leben. Aus diesem Setup entsteht mal Komik, mal Spannung, denn in den Zeiten der Rassentrennung war das Bild eines schwarzen Gentlemans, der sich von einem weißen Arbeiter chauffieren lässt, unvermeidlich irritierend. Noch gut, wenn der Südstaatler mit dem Anblick bloß überfordert war – dieser ruhige, witzige, gar nicht effekthaschende Film hat gleichwohl bedrohliche Szenen, die den Alltag schwarzer Bewohner in den Sundown Towns widerspiegeln.

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