Okt 302020
 

Zu »The Americans«, letzte Staffel

»The Americans« ist eine elegant und mit unwahrscheinlichem Sinn für Details inszenierte Serie, zudem über Staffeln hinweg so erzählt, das sich kaum je die fürs Serien-Genre üblichen Effekte von Abnutzung, Retardation und sturer Langweile einstellen. Gewiss, im Laufe der Zeit übernahm das visuell Schöne die Vorherrschaft gegenüber dem Konzept, den visuell authentisch Eindruck der Achtziger zu inszenieren; es sah dann manchmal einfach zu gut aus. Damit lässt sich leben, weil der Eindruck einer fremden Zeit doch immer erhalten blieb. Continue reading »

Okt 212020
 

»Astronaut«

Angus Stewart (Richard Dreyfuss), der mit ersten Formen der Verwirrtheit zu kämpfen hat, lebt mit einem Bein im Altenheim, mit dem anderen noch im Haus seiner Tochter Molly (Krista Bridges). Insonders die Beziehung zu seinem Schwiegersohn Jim (Lyriq Bent) gestaltet sich schwierig, während er zu seinem Enkel Barney (Richie Lawrence) das freundschaftliche Verhältnis hat, das Menschen mit den Kindern ihrer Kinder meist besitzen. Seit er denken kann, träumt der pensionierte Straßenbauingenieur Angus davon, Astronaut zu werden. Nun, im Alter von 75, erfährt er, dass sich dieser Traum noch erfüllen könnte. Im Rahmen des ersten kommerziellen Weltraumflugs schreibt der Milliardär Marcus Brown (Colm Feore) ein Freiflugticket aus, bei dem sich jeder bis 60 bewerben kann. Barney überredet seinen Großvater, sich zu bewerben, wobei der über sein wahres Alter lügen muss. Als er überraschend in die engere Auswahl kommt, entdeckt Angus jedoch ein technisches Problem, das Menschenleben gefährden könnte. Er beginnt einen Kampf, bei dem es zugleich darum geht, gehört zu werden, und in dem die belastete Familie sich wieder näherkommt. Continue reading »

Okt 202020
 

»Viele meinen, der Künstler müsse sich immer mitteilen, wie es ihm ums Gemüt sei. Die anderen wieder leugnen das gar nicht, mögen indessen nicht einsehen, wieso dieser richtige Satz den Künstler hindere, gelegentlich einen Blick in die ersten Abschnitte von ›Was tun?‹ zu werfen. Gewiß ist die Vorstellung, man könne die Vorzüge des Sozialismus mit den paar noch übrigen Vorzügen des Imperialismus verbinden, angenehm. Aber sie ist, zur gegenwärtigen Zeit, eine ungebildete Vorstellung. Es ist der Wunsch nach einem schokoladenen Leninismus, und ein Lenin, der aus Schokolade wäre, würde schnell schmelzen. […]
Wolf Biermann ist nicht so gut, wie man annimmt. Ich erwähne das nicht zum erstenmal, und ich würde es hier nicht wiederholen, wenn es ihn nicht erklärte. Biermann übernahm sich. Und in je höherem Maße er sich übernahm, desto mehr bedurfte seine Kunst, neben dem Gedicht und der Gitarre, des Skandals.«
(Die Weltbühne 49/1976)

Wer wissen will, was den Namen Cancel Culture wirklich verdient, der schaue auf Hacks. 1976, als er seinen treffenden & bis heute maßgeblichen Text über Biermann schrieb, haben zwei Theaterbetriebe – der der DDR und der der BRD – seine Stücke nahezu flächendeckend blockiert. Nicht ein einzelner Veranstalter, ein einzelner Verlag, ein einzelner Sender (wie heute bei Sarrazin, Steimle, Jebsen, Eckhart, Maron und den anderen Langweilern), sondern mehr oder weniger alle. Continue reading »

Okt 082020
 

»Eine Frau mit berauschenden Talenten«

Es fällt schwer, diesen Film nicht zu mögen, und das liegt zu geschätzten 11 von 10 Teilen an seiner Hauptfigur. Patience (Isabelle Huppert) hat alles. Sie ist klug und witzig, gebildet und stilsicher, lebenserfahren und auch im Alter noch attraktiv. Sie hält die Hoheit über ihr Leben und arbeitet in einem Job, den sie gut kann: fürs Pariser Drogendezernat konspirative Gespräche arabischer Dealer abhören und übersetzen. Nur Geld fehlt ihr. Doch nicht weil sie arm wäre oder verschwenderisch – der Platz im Altenheim für ihre Mutter kostet mehr als 3.000 Euro im Monat. Continue reading »

Sep 242020
 

»Das letzte Geschenk«

Wenn die Erinnerung schwindet, sucht man Halt im Gegenständlichen. Ein Schneider etwa in seinem letzten Anzug, im Faden, der alles zusammenhält. Abraham, ein Herr von bald 90 Jahren und Überlebender der Shoa, hat sich zur Ruhe gesetzt. Da seine Töchter ihn ins Altenheim stecken wollen, macht er sich auf nach Polen, einen Mann finden, dem er das Leben verdankt. Im Gepäck hat er den letzten Anzug, den er als Schneider je fertigte. Auf dem Weg nach Łódź trifft er seltsame Menschen, den introvertierten Musiker Leo, die rauhe Hoteldame Maria, die deutsche Anthropologin Ingrid. Er sucht seine jüngste Tochter auf, die er vor Jahren verstoßen hat, und gerät in Schwierigkeiten, weil er nach Polen will, ohne Deutschland zu durchqueren. Continue reading »

Sep 172020
 

»Jean Seberg – Against all Enemies«

Das Lebensbild setzt elf Jahre früher an. Als Foreshadowing. Die Schauspielerin Jean Seberg (Kristen Stewart) verletzt sich bei ihrer ersten Rolle, den Dreharbeiten zu Otto Premingers Shaw-Adaption »Die heilige Johanna« (1957), am Feuer des Scheiterhaufens. Wäre das nicht tatsächlich passiert, man hielte es der Symbolik wegen, mit der das später im Film Erzählte hier gepackt ist, für allzu plakativ. Jean spielt Jeanne, die als Ketzerin und Hexe verbrannt wurde; die inszenierten Flammen der Jeanne greifen über auf Jean, die somit elf Jahre vor der Hexenjagd, die sie selbst erleben wird, am Leibe zu spüren bekommt, wie eine Hexenverbrennung sich anfühlt. Die Wirklichkeit benimmt sich schon manchmal sehr wie ein Vorschlaghammer. »Jean Seberg«, dieser dagegen dezent erzählte und gediegen inszenierte Film, hat es in politisch-gesellschaftlicher Sache wirklich in sich. Continue reading »

Sep 032020
 

»Corpus Christi«

Daniel ist kein Engel. Eben deshalb kann er Jesus werden. So klingt die seltsame Formel, auf die dieser Film sich bringen lässt. Ob man mit der Botschaft oder der Richtung, aus der sie kommt, etwas anfangen kann oder nicht – um zu begreifen, was er sagen will, muss man ihn in seinen theologischen Momenten ernstnehmen. Der deutsche Titel »Corpus Christi«, der den originalen »Boże Ciało« (Fronleichnam) inhaltlich adäquat überträgt, ist kein Wortgeklimper, er meint tatsächlich, was er sagt, doch dazu am Ende. Continue reading »

Aug 202020
 

»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden«

Es leuchtet und leuchtet nicht. Die Farben sind kraftvoll und ungesättigt zugleich. Weiß der Teufel, wie das geht. Überhaupt ist dieser Film in keiner Hinsicht leicht auf die Formel zu bringen. Kreuzte man die Moral von Almodovar mit der Welt von Buñuel und trüge das Ganze unter Beigabe von reichlich Blut und Ekel mit dem Pinsel Dalis auf die Leinwand, müsste etwas wie »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« herauskommen. Continue reading »

Jul 242020
 

 »Out Of Play – Der Weg zurück«

Es stand ja schlimmes zu befürchten. Vor sechzehn Jahren hatte Gavin OʼConnor schon einmal jenen »Mighty-Ducks«-Typus des Sportdramas bedient, demnach eine erfolglose Mannschaft von einem Coach übernommen und zum höchsten Sieg geführt wird: »The Miracle« (2004) blieb in jeder Hinsicht belanglos, sieht man von der emotiven Komponente ab, dass die so oft von den Sowjets gedemütigte amerikanische Seele sich mit diesem Rührstück späte Linderung verschaffen konnte. Continue reading »

Jul 092020
 

»Gretel & Hänsel«

Märchen ist Mythos. Man muss die Götter durch Hexen ersetzen, die Oliven durch Beeren, das Mittelmeer durch den Odenwald. Muss es gewiss tiefer hängen, denn das universell Humane scheint im Märchen aufs Kindliche reduziert. Bei Homer geht es um die Möglichkeiten des Menschen, bei den Grimms oft nur um Ängste. Die Art des Zustandekommens gleicht sich dennoch. In mündlich tradierten, dem Volk direkt entrissenen Geschichten arbeitet kein poetisch abgesonderter Verstand, es veranschaulicht sich vielmehr, wie Walter Burkert sagt, »bedeutsame, überindividuelle, kollektiv wichtige Wirklichkeit«. Der kollektive, weil mündlich vermittelte Prozess besorgt, dass das Individuelle immer wieder aus der Erzählung gewaschen wird. Daher kann im Märchen neu nie wirklich neu sein. Man erzählt es ja permanent anders. Continue reading »

Jul 022020
 

Kim Young-Ha: »Aufzeichnungen eines Serienmörders«

Wenn Literatur mit Erwartungen spielen, sie provozieren, teils auch enttäuschen soll, haben die »Aufzeichnungen eines Serienmörders« diese Erwartung erfüllt. Aufs Ganze gerechnet liegt hier ein als Thriller getarnter Krimi vor, der sich wiederum als Thriller entpuppt. Gleich zu Beginn wird ein Täter präsentiert, alles weist in Richtung Suspense-Dramaturgie, dann aber geht es um Rekonstruktion des Geschehens, die Täterfigur ist zugleich Ermittler. Wie im »Oidipus Tyrannos«, mit dem Unterschied, dass hier zum Teil sogar rekonstruiert wird, was erst noch geschehen muss. Und all das nun gerät zur Gelegenheit, sich auf ein tieferes Thema einzulassen. Die »Aufzeichnungen« nämlich benennen (so abgegriffen der Titel sich anfühlt) nicht bloß die spezifische Form dieses Romans, eines Tagebuchs nämlich, sie werden selbst zum Thema der Erzählung. Continue reading »

Mrz 132020
 

»Die perfekte Kandidatin«

Maryam (Mila Alzahrani) führt ein verhältnismäßig modernes Leben im heutigen Saudi-Arabien. Sie fährt selbst Auto und arbeitet als Ärztin im örtlichen Krankenhaus. Ihre Familie achtet die Sharia, fällt aber gleichfalls aus dem Rahmen. Die älteste Schwester Selma (Dae Al Hilali) ist Hochzeitsfilmerin, der Vater (Khalid Abdulrhim) Musiker, die unlängst verstorbene Mutter war dem Vernehmen nach eine Querulantin. Auf der Arbeit gerät Maryam an die Grenzen, die die Gesellschaft ihr als Frau setzt: Pfleger, die sich einer Frau nicht unterordnen, Patienten, die sich von ihr nicht behandeln lassen wollen. Continue reading »

Mrz 112020
 

… und seine Selbstermächtigung: Enno Stahls gesammelte Essays »Diskursdisko«

Vor bald sieben Jahren legte Enno Stahl mit »Diskurspogo« (2013) eine Sammlung von Essays vor, die sich mit Spielarten populärer und subversiver Gegenwartsliteratur befassen. Im jetzt veröffentlichten »Diskursdisko« weitet und schärft sich zugleich der Blick; ersteres, indem der Autor länger in die Literaturgeschichte zurückgreift, bis zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, letzteres, indem sein Konzept eines Analytischen Realismus im ersten Teil des Bands systemischen Charakter erhält. Maßgeblich bei all dem bleibt ein soziologischer Zugriff, der sich sträubt, Literatur ohne gesellschaftliche Voraussetzungen und politische Folgen zu betrachten. Dieser Ansatz hat in sich, dass Probleme um Handwerk und Genre, eigentlich Ästhetisches also, kürzer kommen als jedenfalls nötig. Andererseits kann kein Theoriewerk – gleich welches, zu gleich welchem Thema – alles leisten. Was also leistet »Diskursdisko«? Continue reading »

Mrz 102020
 

»La Vérité – Leben und lügen lassen«

Mit »Shoplifters« war Koreeda Hirokazu 2018 gelungen, gediegene Erzählung und sozialen Realismus auf einem Niveau zu vermitteln, wie es nur selten erreicht wird. In dieser Hinsicht sticht das Werk auch unter den großen Sozialdramen der letzten Jahre heraus: »Roma«, »Parasite«, »Glücklich wie Lazzaro«, »Dogman«, »The Public«, »In den Gängen«, »Capernaum«, »En guerre«, »In Dubious Battle« – you name it. Continue reading »

Mrz 052020
 

»Die Känguru-Chroniken«

Was tun mit einem Buch, das verfilmt werden soll, aber nicht verfilmt werden kann? Was immer sich anführen lässt zugunsten von Marc-Uwe Klings »Känguru«-Bänden (entstanden zwischen 2009 und 2014), sie sind viel zu episodisch und weitläufig, viel zu gedanklich und dialogisch auch, um hieraus eine gebundene Sache wie die Handlung eines Films gewinnen zu können. Folglich gab es zwei Wege: einen im Buch vorhandenen Strang herausschälen und zum filmtragenden Geschehen aufpumpen, oder aber eine völlig neue Handlung schaffen, die nicht der Erzählung, doch den Figuren treu bleibt. Regisseur Dani Levy und der auch für das Drehbuch verantwortliche Autor Marc-Uwe Kling entschieden sich für den zweiten Weg, und vermutlich war das richtig. Continue reading »