Felix Bartels

Apr 152020
 

Haltungen in der Corona-Krise

Es brauchte keine zwei Wochen Lockdown, bis das Sterben von Mitmenschen für verhandelbar erklärt wurde. Natürlich gleitend. Man wird ja noch fragen dürfen, ob man fragen darf … Man wird ja noch fragen dürfen … Man wird ja noch sagen dürfen. In den USA hat sich in diesen zwei Wochen die Zahl der Todesfälle vervierzehnfacht (von 1.200 auf 16.700), in Deutschland verzehnfacht (von 260 auf 2.600). Aber schön, dass wir das alles so offen diskutieren. Continue reading »

Apr 042020
 

Der Virologe als Influencer: Zum Corona-Podcast des Mediziners Christian Drosten

Im Februar noch hätte ich »Drosten« für eine Pluralform gehalten. Für das also, was fällig würde, wenn Wiglaf und Annette sich trotz Kontaktverbot im Dichterhimmel treffen. Aber jetzt kommt er, ganz in weiß, der Viruskundler, gefragt vor allen, zu allem gefragt. Muss wissen, vorauswissen, immer richtig liegen. Man lauscht ihm. Die einen, um zu folgen, die andern, weil sie warten, dass er einen Fehler macht. Jedes Adverb kann ihm zum Verhängnis werden. Christian Drosten bleibt dran, philibustert weiter, solange jemand redet, ist die Menschheit noch da. Continue reading »

Mrz 212020
 

Neoliberalismus mit anderen Mitteln: Zur politischen Seite der Pandemie

Deklarieren von Zuständigkeit beginnt gern mit dem Erklären von Unzuständigkeit. Man schickt den Vorbehalt voraus, damit er im folgenden nicht mehr störe. »Ich bin kein Virologe, aber …« Der Biologieunterricht ist lang her, ein paar populärwissenschaftliche Texte helfen dürftig aus. Bloß, was soll man denn machen? Wenn alle betroffen sind, geht es auch alle an. Die Pandemie hat ihre politische Seite. Continue reading »

Mrz 132020
 

»Die perfekte Kandidatin«

Maryam (Mila Alzahrani) führt ein verhältnismäßig modernes Leben im heutigen Saudi-Arabien. Sie fährt selbst Auto und arbeitet als Ärztin im örtlichen Krankenhaus. Ihre Familie achtet die Sharia, fällt aber gleichfalls aus dem Rahmen. Die älteste Schwester Selma (Dae Al Hilali) ist Hochzeitsfilmerin, der Vater (Khalid Abdulrhim) Musiker, die unlängst verstorbene Mutter war dem Vernehmen nach eine Querulantin. Auf der Arbeit gerät Maryam an die Grenzen, die die Gesellschaft ihr als Frau setzt: Pfleger, die sich einer Frau nicht unterordnen, Patienten, die sich von ihr nicht behandeln lassen wollen. Continue reading »

Mrz 112020
 

… und seine Selbstermächtigung: Enno Stahls gesammelte Essays »Diskursdisko«

Vor bald sieben Jahren legte Enno Stahl mit »Diskurspogo« (2013) eine Sammlung von Essays vor, die sich mit Spielarten populärer und subversiver Gegenwartsliteratur befassen. Im jetzt veröffentlichten »Diskursdisko« weitet und schärft sich zugleich der Blick; ersteres, indem der Autor länger in die Literaturgeschichte zurückgreift, bis zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, letzteres, indem sein Konzept eines Analytischen Realismus im ersten Teil des Bands systemischen Charakter erhält. Maßgeblich bei all dem bleibt ein soziologischer Zugriff, der sich sträubt, Literatur ohne gesellschaftliche Voraussetzungen und politische Folgen zu betrachten. Dieser Ansatz hat in sich, dass Probleme um Handwerk und Genre, eigentlich Ästhetisches also, kürzer kommen als jedenfalls nötig. Andererseits kann kein Theoriewerk – gleich welches, zu gleich welchem Thema – alles leisten. Was also leistet »Diskursdisko«? Continue reading »

Mrz 102020
 

»La Vérité – Leben und lügen lassen«

Mit »Shoplifters« war Koreeda Hirokazu 2018 gelungen, gediegene Erzählung und sozialen Realismus auf einem Niveau zu vermitteln, wie es nur selten erreicht wird. In dieser Hinsicht sticht das Werk auch unter den großen Sozialdramen der letzten Jahre heraus: »Roma«, »Parasite«, »Glücklich wie Lazzaro«, »Dogman«, »The Public«, »In den Gängen«, »Capernaum«, »En guerre«, »In Dubious Battle« – you name it. Continue reading »

Mrz 052020
 

»Die Känguru-Chroniken«

Was tun mit einem Buch, das verfilmt werden soll, aber nicht verfilmt werden kann? Was immer sich anführen lässt zugunsten von Marc-Uwe Klings »Känguru«-Bänden (entstanden zwischen 2009 und 2014), sie sind viel zu episodisch und weitläufig, viel zu gedanklich und dialogisch auch, um hieraus eine gebundene Sache wie die Handlung eines Films gewinnen zu können. Folglich gab es zwei Wege: einen im Buch vorhandenen Strang herausschälen und zum filmtragenden Geschehen aufpumpen, oder aber eine völlig neue Handlung schaffen, die nicht der Erzählung, doch den Figuren treu bleibt. Regisseur Dani Levy und der auch für das Drehbuch verantwortliche Autor Marc-Uwe Kling entschieden sich für den zweiten Weg, und vermutlich war das richtig. Continue reading »

Mrz 042020
 

Zum neusten Schmerz des Dietmar Hopp

Die DFL bedient sich einer gigantischen Propagandamaschine. Sport1, Sky und Springerblätter, Spieler und Trainer mit Social-Media-Auftritten, Ehemalige an den Mikrophonen, Lokalpolitiker und sogenannte Edelfans. Diese Maschine muss der Liga gar nicht gehören, es sind die gemeinsamen Interessen – wirtschaftliches Anwachsen, Aufstieg in der Fünfjahreswertung, Durchdrücken einer liberalen Agenda –, die das Gleichstreben besorgen. Wie gut geölt der Koloss ist, wird insonders während derjenigen Skandale anschaulich, die an das Innerste des Betriebs rühren. Continue reading »

Feb 202020
 

»Weißer, weißer Tag«

Im Outback Islands, jenes eigenartigen Staats, der fast ausschließlich an seinen Küsten besiedelt ist, scheint sich die Handlung dieses Films zuzutragen. Der Polizist Ingimundur (Ingvar Eggert Sigurosson) lebt nach dem Unfalltod seiner Frau in zeitweiligem Ruhestand. Die Verhältnisse der verbliebenen Familie sind schwierig, einzig mit seiner Enkelin Salka (Ída Mekkín Hlynsdóttir) pflegt er unbeschwerten Umgang. Als der Verdacht aufkommt, sein Nachbar Olgeir (Himir Snaer Guonason) habe eine Affäre mit seiner Frau gehabt, beginnt Ingimundur zu ermitteln. Immer mehr beherrscht ihn der Gedanke der Rache. Continue reading »

Feb 182020
 

»Bombshell«

Wie Adam McKay ist Jay Roach den seltsamen Weg von der seichten Komödie zum Politdrama gegangen. Und wie bei dem bleibt dieses Herkommen in den späten Filmen spürbar. McKay arbeitet mit Durchbrechen der 4. Wand, Voiceover, Mockumentarystil und Archivmaterial. Roach bewahrt den fiktionalen Charakter mehr, doch beider Politfilme haben gemein, dass flottes, oft irritierend-arhythmisches Pacing sowie ein Übergewicht an Diktion das Komödienhafte erhält und so eine eigentümlich neue Sorte Politdrama etabliert, die sich von dem, was etwa Oliver Stone, George Clooney oder Jason Reitman tun, unterscheidet. Continue reading »

Feb 082020
 

Geschichte wiederholt sich nicht nicht – Ein paar Takte zu Thüringen

Wer untot ist, ist noch nicht tot. Aber er lebt auch nicht mehr, und wer nicht lebt, tut besser daran, gleich ganz weg zu sein. Wenn er dann auch nichts ausrichtet, es entsteht zumindest Platz für Befugteres. Die Linke hatte den Zustand ihrer Untöte erreicht, seit sie begann, sich die Sorgen der Mitte zu machen. Ich will sie gar nicht tot, ich will sie wieder lebend. Wie reanimiert man einen Zombie? Continue reading »

Jan 302020
 

»Little Women«

Viel schon wär erreicht, wenn ein Film von, über und mit Frauen nicht gleich auch einer für Frauen sein muss. Wenn Frauenthemen nicht als partikular gelten, während Männerthemen für universell genommen werden. Und wenn man von einem solchen Film nicht mehr erwartet, dass an ihm auch gleich die Welt gesunden müsse. In der turnusmäßigen Aufregung vor den Oscars schlug, nachdem »Little Women« als einziger Film einer Frau fürs Best Picture nominiert wurde, die Stunde des Sonntagsfeminismus. Continue reading »

Jan 232020
 

»Weathering With You«

Nachdem Isao Takahata und Hayao Miyazaki über Jahrzehnte hinweg den japanischen Animationsfilm bestimmt hatten, blieben mit ihrem Ruhestand stilistische Maßgaben zurück, denen sich heute kaum ein Anime-Regisseur entziehen kann. Was die kommenden Jahre betrifft, zeichnet sich unterdes ab, dass es wiederum zwei Regisseure sein werden, die das Genre dominieren, Mamoru Hosoda und Makoto Shinkai. Anders als die Ghibli-Gründer arbeiten sie nicht zusammen, und anders als bei denen scheint ihr Verhältnis von Respekt geprägt. Hosoda ist der bessere Erzähler; seine Stories erweisen sich als komplexer, vielseitiger in den Ideen, präziser in den Raum- und Zeitstrukturen. Shinkai ist der bessere Director; die Figuren noch im traditionellen Manga-Stil haltend schafft er bei den Hintergründen ein Festspiel von Effekten, das nicht nur in Japan ohne Gleichen steht. Continue reading »

Jan 162020
 

»1917«

Film ist ein Ding, das tut, als sei es Vorgang. Oneshot eine Szene, die tut, als sei sie Film. »1917« nun ein Film, der tut, als sei er Oneshot. Spielerei mit Weltkrieg also? Es fing ja früh an, mit Hitchcocks »Rope« (1948), wo die Bemühung einer kontinuierlichen Einstellung noch durch die Laufzeit der Filmrollen begrenzt war. Folglich musste er genau das machen, was Sam Mendes jetzt freiwillig tut – einen Film schneiden, der wie ein ungeschnittener aussieht. Genauso verhält es sich bei »Birdman« (2014) und dem zu Recht kaum beachteten »Bushwick« (2017). Tatsächlich ungeschnittene Filme wie »Russian Ark« (2002), »Victoria« (2015) oder »Utøya 22. Juli« (2018) verenden dagegen, weil die Produktionsnotiz zur Hauptnachricht wird. Was »One Cut of the Dead« (2017) wenigstens ins Witzige wendet, insofern dieser Film die eigene Entstehung miterzählt. Der tatsächliche Oneshot bleibt beschränkt; man kann nicht das beste Material wählen, muss auf die szenischen Möglichkeiten der Montage verzichten, zeitlich gebunden bleiben. Der scheinbare Oneshot ist die größere Herausforderung; seine Schnitte müssen elegant verborgen, alles im Takt und am Ort gehalten sein. Wen interessiert, was am Set passierte? Entscheidend ist auf der Leinwand. Continue reading »