Okt. 072020
 

Ergänzungen zu einer befugten Kritik

Opportunisten haben keine Grundsätze. Na gut, einen doch. Marx tat uns den Gefallen, ihn mal zu formulieren: »Those are my principles, and if you donʼt like them – well I have others« (Groucho natürlich, nicht Karl). Indessen muss dieser eine Grundsatz, der dann doch vorhanden ist, bei Strafe der Unglaubwürdigkeit verleugnet werden. Der Opportunist bekennt sich fortwährend zu Dingen, an die er nicht glaubt, zu der einen Sache aber, an die er glaubt, darf er sich nicht bekennen. Und was für die Gegenwart gilt, gilt auch für die Vergangenheit: Das Umdeuten der eigenen Biographie wird dann folgerichtig. Der orthodoxe Opportunist will schon immer genau das vertreten haben, dem er sich grad eben erst unterworfen hat.

In der Ausgabe vom Mittwoch konnte man bei Sebastian Carlens nachlesen, wie sich das konkret ausnimmt. Sein Fallbeispiel ist Sahra Wagenknecht, der er eben jenen Vorwurf macht, »die eigene Geschichte anhand späterer Erkenntnisse umzuschreiben«. Grundsätzlich möchte ich ihm hier gar nicht widersprechen, es ist nur, denke ich, noch viel schlimmer.

Wir kennen das Muster Wagenknecht lange schon, eigentlich vom Beginn an, 1992, als sie wegen eines trefflichen Essays aus den »Weißenseer Blättern« in ihrer Partei schwer einstecken musste. Sie hat damals am eigenen Leib erfahren, dass Klügersein und gut Argumentieren in der Politik gar nichts ausmacht. Dort geht es nicht darum, recht zu haben, sondern Stimmungen aufzuspüren und die richtigen Reizwörter zum richtigen Zeitpunkt fallen zu lassen. Sie hätte daraus was lernen können, hat aber nur draus gelernt. Wichtig zu begreifen gewesen wäre, dass ein politischer Erfolg, der mit dem Verlust der eigenen Standpunkte erkauft wurde, lediglich eine andere Art der Niederlage ist.

Wie immer, seither scheint Wagenknecht auf Suche nach Anschluss, von der »Kommunistischen Plattform« über die »Antikapitalistische Linke« bis hin zu »Aufstehen«, und mit etwas Glück darf sie irgendwann auch mal im Willy-Brand-Haus vorsprechen. Sie gab den Leninismus zugunsten eines westlinken Antiimperialismus auf, in dem zu kurz geratene Kapitalkritik und gefühlstriefende Identifikation mit globalen Underdogs in einer Stimmung gerinnen, die mit der kühlen Strategie Lenins nicht mehr zu tun hat als die Kommune I mit dem Kommunismus. Nachdem auch dieser Antiimperialismus sich verbraucht hatte, ging Wagenknecht auf Fang von Wählerstimmen, die manch einer in ihrer Partei nach rechts hin verloren zu haben meinte, anstatt einzusehen, dass diese Stimmen, die jetzt der AfD – no pun intended – zuwandern, schon immer nur geborgt waren. Nicht irgendeine Neigung zum Völkischen, sondern eben diese nimmermüde Suche nach der Mehrheitsströmung oder vielmehr der kommenden starken Welle, die man auf keinen Fall verpassen darf, macht den Hintergrund jenes merkwürdigen Nationalmenschewismus aus, den Wagenknecht in den letzten Jahren an der Frage der Zuwanderung entwickelt hat und als kontinuierliche Fortsetzung ihrer unumstößlichen Grundsätze auszugeben nicht müde wird.

Das Fundstück, das Carlens jetzt bringt, passt hier sicher auch. Wagenknechts Beschreibung der Ulbricht-DDR als »Wirtschaft, die marktförmig« sei, »in der es Wettbewerb gibt«, ist dabei zunächst mal noch adäquat. Sie erfasst, was damals der Fall war, erfasst zudem die Intentionen, die Leute wie Wolfgang Berger oder Erich Apel bei der Entwicklung des Neuen Ökonomischen Systems hatten. Nebenbei entspricht sie auch den instruktiven Darlegungen des von N.A. Zagolow verantworteten Theoriebuchs zur Politischen Ökonomie des Sozialismus (Moskau 1970). Ich wünschte, wir würden mal über Größe und Grenzen dieses Werks debattieren, statt uns mit der Frage herumzuschlagen, wie akzeptabel es ist, wenn Oskar Lafontaine mit Thilo Sarrazin darüber plaudert, dass Flüchtlingskinder den deutschen Arbeiter zu viel Geld kosten.

Der Grundgedanke in der DDR zwischen 1962 und 1970 war, dass die Warenproduktion mehr ist als ein überkommener Makel, der möglichst rasch zu überwinden sei. Es wurde »zu wenig beachtet«, heißt es bei Ulbricht 1967 in wortgenauer Gegenthese zu Marxens »Randglossen« (1875), »daß der Sozialismus sich auf seiner eigenen Grundlage entwickelt.« Man baute an einem Sozialismus, der das Wertgesetz nutzt, es sich gewissermaßen aneignet, bei Aufrechterhalten seiner beiden notwendigen Elemente: Vergesellschaftung und Planung. Wagenknechts Umdeutung liegt nicht im positiven Bezug auf den Markt, sondern darin, dass sie den Unterschied zwischen Erhard und Ulbricht, zwischen kapitalistischer Warenproduktion und einer Warenproduktion, die für den Sozialismus modifiziert und nutzbar gemacht wurde, nachträglich verdeckt. Dieser Unterschied ist – und hier passt die vielbenutzte Phrase tatsächlich mal – ein Unterschied ums Ganze.

Im Neuen Ökonomischen System sollte das Wertgesetz nicht blind wirken – durch ein Oszillieren der Preise um den Wert, womit erst die Abweichung vom Gesetz das Gesetz durchsetzen kann (guckstu: MEW 42, 72). Es ging vielmehr um Kontrolle und Antizipation. Das ab 1962 installierte System hatte verschiedene Mechanismen, deretwegen es nicht zur freien Marktwirtschaft degenerieren konnte, etwa eine Preisform, die kontrolliert angepasst wurde, juristische Restriktionen, die Akkumulation von Kapital verhinderten, oder den umfassenden Zusammenhang der Planung, die bei aller Freiheit, die sie in sich gestattete, als Rahmen stets verbindlich blieb. Und indem Sahra Wagenknecht diese Differenz eines dem Plan unterworfenen Markts zum freien Markt verwischt, verfälscht sie viel mehr als bloß ihre eigene Vergangenheit. Sie deutet den Sozialismus, dem sie mal anhing, um.

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in: junge Welt v. 7. Oktober 2020.

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