Neoliberalismus mit anderen Mitteln: Zur politischen Seite der Pandemie
Deklarieren von Zuständigkeit beginnt gern mit dem Erklären von Unzuständigkeit. Man schickt den Vorbehalt voraus, damit er im folgenden nicht mehr störe. »Ich bin kein Virologe, aber …« Der Biologieunterricht ist lang her, ein paar populärwissenschaftliche Texte helfen dürftig aus. Bloß, was soll man denn machen? Wenn alle betroffen sind, geht es auch alle an. Die Pandemie hat ihre politische Seite.
Dieser Tage rückt das Land zusammen. Eine EM wird abgesagt, und keinen interessiert es. Von Nazis im Landtag redet niemand mehr. Angela Merkel tut, was sie kann, nichts. Die B-Prominenz der Linkspartei ist entzückt: »Die Krisenkanzlerin. Merkel hat eine Churchill-Rede gehalten. Und sie hat es gut gemacht«, schreibt einer aus dem Dunstkreis der Fraktion. Der Notstand gestattet die Servilität, die man ohnehin zeigen wollte. Das Wir aber ist Fiktion. Die Pandemie wird in ihrem ökonomischen Impact vor allem die einfachen Lohnarbeiter und zahllose Freiberufler treffen. Die Giganten werden gerettet, zur Not verstaatlicht. (Was, wie Kai Köhler zuletzt an dieser Stelle bemerkte, genau gar nichts zu schaffen hat mit der Art Verstaatlichung, die dem Sozialismus vorausgesetzt ist.) Die sich abzeichnende Krise ist umfassend, denn die Prosperität der Sektoren hängt voneinander ab. Arbeit – einer muss es den wertkritischen Sonntagslinken mal sagen – ist keine Erfindung des Kapitalismus. Sie bedeutet Überleben.
In ihrem biologischen Impact wird die Welle alte Menschen treffen, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Immunschwäche. Menschen eben. Warum werden diese Gefährdeten als Risikogruppe bezeichnet? Wer ist hier für wen ein Risiko? Was ist mit Ottonormalbürgern, die die Desinfektionsmittel gehortet haben, die gerade in den Krankenhäusern knapp werden? Was mit jungen Männern, die sich über social distancing hinwegsetzen, andere Menschen aus Spaß anhusten oder Corona-Partys feiern, deren gute Laune im engen Sinne des Wortes ansteckend ist? Was mit führenden Virologen und Politikern, die vom kontrollierten Durchinfizieren der Bevölkerung reden? Was mit denen, die die Mortalität des Virus empathielos mit der üblichen Alterssterblichkeit verrechnen? Nicht die Gefährdeten, die Gefährdenden sind unsere Risikogruppe.
Das »Abflachen der Infektionskurve« ist zum politischen Bekenntnis geworden. Gegen Staatlichkeit, Verantwortung, eine Politik der Sicherheit. Gewiss, man arbeitet mit Druck an einem Serum, doch bis dahin herrscht die Sehnsucht, dass die Natur das alles schon regle. »Flatten the Curve«, das ist Neoliberalismus mit virologischen Mitteln. Mithin fahrlässig. Man behandelt eine exponentielle Funktion wie eine lineare, übersieht, wie viele Jahre der Ausschlag in die Länge hingezogen werden müsste, damit die Kurve einigermaßen flach bleibt, verdrängt, dass die Gesundheitsversorgung auch bei zehnfacher Überlastung noch zusammenbräche, klammert aus, dass es so etwas wie ein kontrolliertes Durchinfizieren in einem Land von 80 Mio. Bewohnern nicht geben kann. Die Regierung spielt mit Menschenleben wie ein Kleinkind mit Feuer, und glaubt, dass das weniger infantil wirkt, wenn sie dabei betroffen in die Kamera schaut.
Wann baute Noah die Arche? Vor der Sintflut. Der Nicht-Virologe Christian Y. Schmidt hat seit Mitte Februar davor gewarnt, dass das Virus Europa erreichen werde. Zur selben Zeit gaben die verantwortlichen Stellen an, dass man alles im Griff habe. Sämtliche Maßnahmen seither – social distancing, Versammlungsverbot, Schließung von Schulen und Grenzen – kamen immer zu spät. Auch der Lockdown wird zu spät kommen. Es geht nicht mehr darum, was passiert, es geht um das, was längst passiert ist.
China hat, nach Fehlern zuerst, die richtige Politik verfolgt: kein gebremstes Durchinfizieren der Bevölkerung, sondern Eindämmen des Virus. Man handelte zügig, beschaffte ausreichend Mittel, erzwang das Tragen von Atemmasken, riegelte Regionen ab, schränkte Verkehr und Versammlungen ein, kontrolliert Einreisende, praktiziert stationäre (nicht ambulante) Quarantäne und führt eine hohe Zahl täglicher Testungen durch. Die Epidemie ist dort, wie es jetzt aussieht, im Griff.
In Deutschland hält man all das nicht für nötig. Der Charakter der bürgerlichen Gesellschaft, ihr Verfahren, sich hinten herum und auf Kosten der Wehrlosen zu regulieren, kommt in jeder Phase der Pandemie zum Ausdruck – den Ursachen, den Folgen, der Bekämpfung. Eine Gesellschaft, die nicht-profitable Krankenhäuser schließt, medizinische Versorgung auslagert, Subsidiarität anstelle von Solidarität setzt und im Notstand daher schnell die Grenzen der Kapazität erreicht, ist nichts anderes als das Co-Virus zu Corona. So verspricht sie denn auch, was die Folgen der Pandemie betrifft, lediglich Kredite anstelle bedingungsloser Entschädigung für die Opfer der kommenden Depression. Und kann sich, wie im Fall CureVac zuletzt, kaum halten vor Dankbarkeit gegenüber Milliardären, die sich öffentlichkeitswirksam als Mitmenschen inszenieren, ihren Reichtum, der auf der Ausbeutung von Lohnarbeitern beruht, gleichsam als Gnade verteilend.
Noch im Kampf gegen die Seuche spiegelt sich das wieder, indem der Föderalismus zügiges Handeln verhindert und der Verzicht auf frühzeitigen Lockdown das Primat der Ökonomie klargemacht hat. Im Glauben zudem an ein natürliches Durchinfizieren feiert die Stimmung der Impfgegner mit der Logik des Freien Markts eine Mesalliance des Inhumanen.
Deregulierung, Föderalismus, Durchinfizierung sind Symptome des kapitalistischen Virus. Die gefährdeten Gruppen zahlen den Preis für die Bequemlichkeit aller Anderen. Doch, wir sitzen durchaus im selben Boot. Nur hat es ein Deck für die Ruderer, eins fürs Lazarett, eins für die Fahrgäste und ein Steuerhaus mit bloß einem Fenster. Nach hinten.
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in: junge Welt v. 21. März 2020.
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