Thieles gestriger FAZ-Artikel, in dem er mich und andere über-, unter- oder beiordnet, hat mich von der Arbeit abgehalten. Ich denke, da stimmt was nicht. Er teilt, es zusammenzufassen, die Zeitgenossen, die sich positiv auf Hacks beziehen, in drei Gruppen ein: Imitatoren, Dogmatiker und Denkende. Imitatoren, die einen bloß intuitiven Zugang zu Hacks haben und allein an der poetischen oder weltlichen Haltung des Dichters interessiert sind; Dogmatiker, die den reinen, den wahren Hacks gleich einer Säule in die Landschaft stellen und ihn gegen jegliche Anwürfe von außen verteidigen; und Denkende, die die affirmative Aneignung des Dichters durchlaufen haben, doch über ihn hinausgegangen sind. Modelle müssen ja gar nicht bis ins letzte stimmen, aber sie sollten arbeitsfähig sein. Thieles Einteilung ist in sich stimmig, büßt aber bei der Reichweite.
Ich spreche nicht von der Zuordnung, obwohl auch die zum Teil ungerecht ist (Philipp Steglich ist ebenso wenig ein Imitator wie Felix Klopotek). Ich spreche zunächst von den Begriffen, dann vom Begriffsgeflecht. Imitation ist nicht die einzige Form des bloß intuitiven Zugangs; es gibt auch die bewußt distanzierte, kritisch anerkennende Weise, die man bezogen auf Hacks z.B. von Frank Schirrmacher oder Gustav Seibt kennt. Auch deren Zugang ist bloß intuitiv, unter-begrifflich, auch sie interessieren sich mehr für die Haltung als für den Inhalt. Aber das hat nichts mit der Imitatio zu tun, zu der manch 1 anderer im Angesicht der geistigen und rhetorischen Brillanz des poetischen Solitärs verleitet ist. Wenn Thiele das Intuitive mit dem Mimetischen in eins setzt, bekommt die Bestimmung etwas Pejoratives, und was da steht, ist: Es gibt Affen. Affen jedoch haben zwar keine Begriffe, aber nicht jeder, der keine Begriffe hat, ist gleich ein Affe. Sagt Aristoteles, und der hat die Zoologie erfunden.
In betreff der Dogmatiker wiederum fehlt ein wichtiger Zusatz. Der Dogmatiker fühlt sich stets in Übereinstimmung mit seinem Gegenstand und ist zugleich außerstande, sich die Rezeption seines Gegenstands anders zu denken als als Verteidigung gegen Zugriffe von außen. Gerade weil er aber den Gegenstand zugleich rein und mit sich selbst, dem Dogmatiker, eins weiß, verteidigt er nicht den Gegenstand, sondern eine Vorstellung von ihm. Seine. Der Dogmatiker, der gegen jede Abweichung kämpft, muß in seinen theoretischen Voraussetzungen vom Gegenstand abweichen. Er muß ihn unter Niveau begreifen, weil er ihn nicht in seiner Widersprüchlichkeit begreifen kann. Während das kritische Denken daran scheitert, daß es die Brüche des Gegenstands für dessen Hauptsache hält, irrt der Dogmatiker, weil er die Brüche ausblendet. Einen Dogmatiker vermeint man gemeinhin daran zu erkennen, daß er nicht abweicht, der Hacks-Dogmatiker wäre demnach einer, der in dieser oder jener oder in auch in vielen Fragen mit den Urteilen des Dichters übereinstimmt. Aber Meinungen sind völlig unerheblich, entscheidend die Frage, wie sie zustande kommen. Ein selbständiger Kopf wird nicht dadurch weniger selbstständig, daß er mit einem anderen in einer Mehrheit von Grundfragen übereinstimmt. Dogmatismus ist die Unfähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen. Man kann einen erscheinenden Widerspruch anerkennen, für sich stehen lassen, vermitteln oder aufheben. Der Dogmatiker wird ihn immer abwehren, um den Gegenstand seiner Zuneigung rein zu halten. Darin, und nur darin, verrät er sich.
Das von den Begriffen. Was das ganze Begriffsgeflecht – Imitatoren, Dogmatiker und Denkende – betrifft, so fehlt zumindest eine wichtig Differenz, nämlich die zwischen theoretischem und praktischem Verhältnis. Es ist ein großer Unterschied, ob ich zu bestimmen versuche, welche Perspektive ein Schriftsteller auf Peter Hacks hat, oder, welchen Einfluß Hacks auf diesen Autor hatte. Es ist ein Unterschied, ob einer über Hacks urteilt oder ein Schüler von ihm ist; verwickelt wird das nur gelegentlich dadurch, daß für manche das eine wie das andere gilt. Bei Thiele fällt der Begriff der Aneignung, doch von Aneignung läßt sich nur in praktischen Zusammenhängen sprechen. Ein Baumkundler nämlich tut etwas anderes als ein Holzfäller. Der Baumkundler bildet im Geist den idealen Baum ab, er bestimmt ihn theoretisch, verzeichnet seine Merkmale und seine differentia spezifika. Er treibt Theorie, und wer will leugnen, daß er, indem er das tut, den Gegenstand verändert. Es entsteht der theoretische Baum, der nie ganz mit dem wirklichen übereinstimmen kann. Aber Ziel des Baumkundlers bleibt stets die möglichst getreue Abbildung des wirklichen Baums. Der Holzfäller dagegen interessiert sich nicht für den Baum, er braucht das Holz. Er will es zurechtschneiden, um z.B. eine Blockhütte zu bauen. Die Veränderung, die er am Gegenstand vornimmt, ist nicht bloß unvermeidlich, sondern geradezu Sinn und Zweck des Vorgangs. Er eignet sich den Baum an, verwandelt Naturstoff in ein neues Gebilde, das erst dadurch seinen Zweck erhält.
Außerstande zu leugnen, daß die Lektüre des Dramatikers und Essayisten Hacks zu den prägendsten Erlebnissen meines Lebens gehört, muß ich doch zwei Dinge unterscheiden. Wenn ich einen Text über irgendwas schreibe, lebt in dem, was ich schreibe, das, was ich gelesen habe, fort, sowohl affirmativ als auch negativ. Das gilt für Hacks ebenso wie für Hegel, Marx oder Aristoteles und überhaupt für jeden, dem ich prägende Erfahrungen danke. Ich stimme ihnen zu, ich widerspreche ihnen, aber ich bin durch meine Erfahrungen ein anderer, kann, was mich prägte, nicht aus mir herausstreichen. Wenn ich hingegen über Hacks schreibe, dann bin ich zur Zurückhaltung verpflichtet. Natürlich bin ich immer noch ich, aber ich darf aus dieser Not keine Tugend machen. Ich schreibe also, wenn ich über Hacks schreibe, über Hacks und nicht über den in mir aufgehobenen Hacks. Es geht darum, eine fremde Struktur, nämlich die des zu untersuchenden Denkers bzw. Dichters, und das heißt genauer: seines Werks, zur Erscheinung zu bringen, ihre Reichweite auszuloten, ihre kontinuierlichen Linien wie auch ihre inneren Oppositionen herauszuarbeiten. Dabei ist der Gegenstand immer der Gegenstand, und ähnlich bin ich auch verfahren, wenn ich über Platon, Hegel, Sophokles oder Leibniz geschrieben habe.
Urteilen und Darstellen sind zwei verschiedene Vorgänge, und das Darstellen kommt immer zuerst. Sowohl in der ästhetischen Formanalyse als auch in der Interpretation eines Kunstwerks hat das Urteil desjenigen, der analysiert oder interpretiert, im Grunde nichts zu suchen. Es kann en passant gegeben werden oder am Ende, aber die Hauptsache besteht immer in der Frage, was das Werk enthält und wie es gebaut ist. Was der Untersuchende davon hält, interessiert – den Untersuchenden ausgenommen – keine Sau. Ich kaufe doch Eckhart Lefèvres Sophokles-Studien nicht, weil ich wissen will, was Eckhart Lefèvre denkt, sondern weil mich Sophokles interessiert. Und also gilt: Je mehr sich der Untersuchende zu Überlegungen zwingt, die ihm nicht einfach von der Hand gehen, je mehr er den Dichter, den er untersucht, zu seinem Recht und zu Raum kommen läßt, desto interessanter ist der Möglichkeit nach, was er schreibt.
Ich würde gern sagen, das sei, was man wenigstens von den Dogmatikern lernen könne: daß man den Autor, über den man schreibt, zunächst mit dem Strich lesen muß, bevor man ihn beurteilt und, so Gott will, auch kritisiert. Aber der Dogmatiker scheitert ja nicht erst an dem Zunächst (an dem auch, weil er eben nie dorthin kommt, seines Gegenstands Darstellung abzuschließen und zum Urteil überzugehen). Er scheitert schon am Versuch, mit dem Strich zu lesen, selbst.
Der Aneignende hingegen darf scheitern. Er muß gar nicht alles an seinem Lehrer begriffen haben, um über ihn hinauszugehen. Der klügste Mensch, den ich kenne, Daniel Rapoport, redet unentwegt von Hacks, ohne ihn im mindesten begriffen zu haben. Er ist der schlechteste Hacks-Schüler, aber von allen Hacks-Schülern der Beste. Ich will sagen: Es reicht vollkommen, wenn der sich etwas Aneignende am Ende etwas Eigenes vorzuweisen hat, wenn er ein ästhetisch, philosophisch und vielleicht auch politisch autonomes System entwickelt, das erheblich ist. Dann kann er seinen Lehrer überholen, ohne ihn einzuholen. Und das trifft auf Ronald M. Schernikau ebenso zu wie auf Dietmar Dath oder (als es noch zutraf) auf Sahra Wagenknecht. Man darf auch Lyriker wie Ralf Meyer, Werner Makowski und Marco Tschirpke erwähnen, die unübersehbar (und sehr verschieden) von Hacks geprägt sind, aber als Unverwechselbare in der Landschaft stehen und auch so wahrgenommen sein wollen.
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