Γνῶθι σαυτόν
Die … ja doch, man darf wohl sagen: Causa Franziska Augstein[1] verdient eine generelle Betrachtung. Natürlich hat F. Augstein ebenso wie J. Augstein den Vorwurf, sie sei, was sie ist, von sich gewiesen. Sie teilt die Auffassung ihres Bruders, dass der wahre Antisemitismus der bekennende ist und Verdächtigungen gegen ehrbare Personen wie sie bloß vom Kampf gegen diesen eigentlichen Antisemitismus ablenken. Das klingt so nass wie forsch, nur: Man trifft ihn nie, den wahren Antisemitismus. Denn abgesehen von Hotte Mahler, Pierre Vogel und einer Handvoll Ufologen gibt es kaum noch bekennende Antisemiten in Deutschland. Wir leben in einem Land, in dem die Angst vor dem inflationären Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs größer ist als die Angst vor dem Antisemitismus, und diese Haltung ist eigentlich nur dort möglich, wo man annimmt, dass der Antisemitismus genau wie die Pocken und der Haarnasenwombat praktisch ausgestorben ist.
Es sind viele Theorien darüber im Umlauf, was den Antisemitismus ausmache, wo er herkomme, worauf er abziele und ab wann einer Antisemit genannt werden könne. Recht berühmt ist ein 3D-Test von Natan Sharansky[2], der oft etwas anmaßend als Definition bezeichnet wird, aber hilfreich ist, wenn es ums Alltägliche geht. Ihm zufolge seien die drei D – Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelte Standards – verlässliche Anzeichen einer antisemitischen Haltung. Ich finde die drei Begriffe etwas redundant, da ja sowohl Dämonisierung als auch Delegitimierung nur besondere Formungen der doppelten Standards und ohne diese nicht möglich sind. Doch das ist eine theoretische Frage.
Seien wir praktisch. Ich kenne einen ganz einfachen Test, der jedem, der ihn ernsthaft durchführt, sogleich Klarheit über sich verschaffen wird und den ich, man mag es mir verzeihen, den 1A-Test nennen will:
Stellen Sie sich die Frage, woran Sie zuerst denken, wenn Sie das Wort »Antisemitismus« hören. Ist Ihre erste Reaktion eine, die darauf schließen lässt, dass Sie das Phänomen als aktuelles ernstnehmen – fallen Ihnen z.B. der deutsche Schuldkomplex, der europäische Opferneid, das islamistische Minderwertigkeitsgefühl oder das Geschmiere von Hennig Mankell, Günter Grass und Jostein Gaarder ein –, dann können Sie noch vieles andere falsch machen, befinden sich aber auf der richtigen Seite des Jordan. Ist Ihre erste Reaktion eine abwehrende – kommt Ihnen z.B. in den Sinn, dass viel zu häufig Leute des Antisemitismus verdächtigt werden, Deutschland endlich von der Last der Vergangenheit befreit werden müsse, die Israelis auch nicht besser sind etc. –, dann ist es Zeit, Ihren Arzt oder Apotheker aufzusuchen.
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[1] In ihrer Eigenschaft als Redakteurin der Süddeutschen Zeitung hatte Franziska Augstein in der Ausgabe vom 2. Juli 2013 (Seite 15) eine Illustration des in jeder Hinsicht unbescholtenen Künstlers Ernst Kahl ohne Genehmigung verwendet und in einen antisemitischen Kontext gezerrt.
[2] Natan Sharansky: 3D Test of Anti-Semitism. Demonization, Double Standards, Delegitimization. In: Jewish Political Studies Review 16 (Oktober 2004). online: http://jcpa.org/phas/phas-sharansky-f04.htm.
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