Aug 202020
 

»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden«

Es leuchtet und leuchtet nicht. Die Farben sind kraftvoll und ungesättigt zugleich. Weiß der Teufel, wie das geht. Überhaupt ist dieser Film in keiner Hinsicht leicht auf die Formel zu bringen. Kreuzte man die Moral von Almodovar mit der Welt von Buñuel und trüge das Ganze unter Beigabe von reichlich Blut und Ekel mit dem Pinsel Dalis auf die Leinwand, müsste etwas wie »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« herauskommen.

Die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro), die ihren Mann in eine abgeschiedene Nervenklinik hat einliefern lassen, wird während der Rückfahrt im Zug von einem Herrn (Ernesto Alterio) angesprochen, der sich als Ángel Sanagustin, psychiatrischer Gutachter in der betreffenden Einrichtung, vorstellt. Ungefragt beginnt er ihr seine Lebensgeschichte und von einem seltsamen Fall zu erzählen: Ein Soldat begegnet während des Kriegs im Kosovo einer Ärztin, die ein Kinderkrankenhaus unter schwierigen Umständen erhalten möchte und sich dafür auf kriminelle Geschäfte einlässt. Nach und nach entpuppt sich das Erzählte als unwahr oder täuschende Seite einer weiterreichenden Sache. Lüge folgt auf Lüge, Illusion auf Illusion, und alles durchzogen von Sadismus, sexueller Perversion und Bergen von Müll. Erzählung und Erzähltes verschränken sich, Bezüge stellen sich im nachhinein her, wobei wiederholt unklar bleibt, was Erfindung und was wirklich geschehen ist.

Der Film selbst – denn natürlich macht ein solches Werk das eigene Konstruktionsprinzip via Figurensprache zum Thema – vergleicht sich einer Matrjoschka, und seine ersten Worte lauten nicht »Es war einmal eine Frau …«, es hebt an mit: »Angenommen, eine Frau …« Fiktion besteht in der Behauptung nicht-wirklicher Begebenheit als wirklich. Hier wird die nicht-wirkliche Begebenheit als nicht-wirklich behauptet.

Die Handlung ist fast vollständig durch Erzählungen vermittelt, das Gezeigte ein Mitgeteiltes. Den narrativen Höhepunkt erreicht die Konstruktion, wenn das Geschehen über 5 Ebenen verläuft: ein Psychiater einer Frau von einem Brief erzählt, der von einem Soldaten erzählt, der von einer Ärztin erzählt, die von einem Geschäftsmann erzählt, der ihr erzählt, was er über den Verbleib der Kinder des Krankenhauses in Erfahrung gebracht hat. Und obgleich die Konstruktion sich als ungewöhnlich komplex entpuppt, überfordert die Erzählung den Zuschauer zu keinem Zeitpunkt, weil die Ebenen mit einem sicherem Gefühl für Timing etabliert werden. Man vergisst, wenn man es nicht drauf anlegt, dass das Geschehen erzählt ist. Die Vielschichtigkeit aber zeigt – bzw. soll zeigen –, dass das, was nun wirklich geschehen ist, immer nur vermittelt wahrgenommen werden kann. Während in surrealistischen Filmen – zuletzt bei »Burning« (2018) und »The Man Who Killed Don Quixote« (2018) – Wirklichkeit und Einbildung gern wahllos verschränkt erscheinen, machen »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« den Ursprung dieser Verwechselbarkeit deutlich. Genau so nimmt das Subjekt unserer Epoche das durch zahlreiche Medien vermittelte Geschehen dieser sogenannten Informationsgesellschaft wahr. Die Information kann von der Desinformation nicht mehr unterschieden werden, alles löst sich in Narrativen auf, die ihrerseits und genau daher die Macht erhalten, Wirklichkeit zu formen. Jedes Narrativ ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Die Schwäche des Films liegt nicht darin, dass er diesen Zustand abbildet, sondern dass er sich mit ihm abfindet. Das Leitmotiv der Müllberge steht hierfür ebenso exemplarisch wie das Berauschen an Sadismus und sexueller Perversion. Der zur Welterklärung aufgeplusterte romantische Defätismus ist spätestens seit Lukács als indirekte Apologie identifiziert. Entsprechend z.B. wirft der Film für den Moment ein erhellendes Licht auf die Besatzungspolitik der NATO im Kosovo, indem sich zeigt, dass mit der Zerstörung des souveränen Zentralstaats ein quasi rechtsfreier Raum geschaffen wurde, worin Kriminelle und Besatzer vom Menschenhandel profitieren. Doch diese Erzählung erweist sich bald als Fiktion. Alles nie passiert, alles gleich; der Film erzählt buchstäblich Müll.

Defätismus und Leugnung der Wirklichkeit hängen zusammen. Sich am Bösen berauschen ist eine Art Unterwerfung. Die Leugnung der Wirklichkeit lässt sich verstehen als nächstes Level der Resignation. Wenn ich die ganze Welt auflöse, wiegt auch meine Unterwerfung nicht mehr.

»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« [»Ventajas de viajar en tren«]
Spanien, Frankreich 2019
Regie: Aritz Moreno
Drehbuch: Javier Gullón
Darsteller: Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio
Länge: 103 Minuten
Starttermin: 20. August 2020

in: junge Welt v. 20. August 2020.

Sorry, the comment form is closed at this time.