Kim Young-Ha: »Aufzeichnungen eines Serienmörders«
Wenn Literatur mit Erwartungen spielen, sie provozieren, teils auch enttäuschen soll, haben die »Aufzeichnungen eines Serienmörders« diese Erwartung erfüllt. Aufs Ganze gerechnet liegt hier ein als Thriller getarnter Krimi vor, der sich wiederum als Thriller entpuppt. Gleich zu Beginn wird ein Täter präsentiert, alles weist in Richtung Suspense-Dramaturgie, dann aber geht es um Rekonstruktion des Geschehens, die Täterfigur ist zugleich Ermittler. Wie im »Oidipus Tyrannos«, mit dem Unterschied, dass hier zum Teil sogar rekonstruiert wird, was erst noch geschehen muss. Und all das nun gerät zur Gelegenheit, sich auf ein tieferes Thema einzulassen. Die »Aufzeichnungen« nämlich benennen (so abgegriffen der Titel sich anfühlt) nicht bloß die spezifische Form dieses Romans, eines Tagebuchs nämlich, sie werden selbst zum Thema der Erzählung.
In der Tat ist, was Kim Young-Ha zu erzählen hat, smart und vielschichtig, was man nach dem Anriss der Handlung noch gar nicht glauben will: Der ehemalige Tierarzt Byongsu Kim lebt im Alter von 70 als Serienmörder im Ruhestand. Vor 25 Jahren hatte er durch eine Kopfverletzung die Mordlust eingebüßt. Jetzt verbringt er seine Zeit mit Lesen und Schreiben, von Gedichten – aber auch damit, seine Erinnerungen zu notieren. Denn er leidet an Alzheimer und fühlt das Bedürfnis, Kontrolle und Übersicht über sein Leben zu behalten. Als er in seiner Gegend einen jüngeren Mann trifft, den er als Serienmörder erkennt, fasst er, um das Leben seiner Tochter zu schützen, den Plan, einen letzten Mord zu begehen.
Peripetien, gewiss, kommen hinzu. Besonders aber sind die »Aufzeichnungen« nicht dadurch, was, sondern wie erzählt wird. Fast durchgängige, doch nie leiernde Parataxe bekräftigt den Gestus der Beiläufigkeit, mit der Erzähler und Hauptfigur, die hier zusammenfallen, denjenigen Dingen begegnen, die anderen Menschen wichtig und schützenswert erscheinen. Wie er trocken darüber redet, Leute umzubringen, sich dann bei Details aufhält, als sei der Tod selbst gar nichts weiter. Eifer erwächst ihm nur, wenn es um die Leidenschaft des Tötens geht.
Was von den Sätzen gilt, gilt auch von den Absätzen. Die Aufzeichnungen sind Fragmente, Eintrag reiht sich an Eintrag, roter Faden, echter Fluss, organisierte Erzählung will nicht entstehen. Das ist kein Zufall, denn die Erzählerfigur kann, da sie an Demenz leidet, kaum anders verfahren als so. Indessen puzzelt der Leser, wo sie bloß notieren, nicht erzählen kann. Die Erzählung des Mordes als Mord der Erzählung.
Mit Rücksicht auf die Alzheimererkrankung wird ferner die Ich-Perspektive besonders wirksam, da der Erzähler sich nicht an alles erinnert, was sich ereignet, mithin nicht an alles, was er erzählt hat. Als Leser ist man von der Ich-Perspektive gewohnt, dass Kenntnis von Erzähler und Leser sich decken. Der Leser kann nur wissen, was der Erzähler berichtet; der Erzähler nur berichten, was er weiß. Erzählen besorgt den Angleich der Wissensstände. Noch nicht erzähltes Wissen aber ist nicht greifbar. Der Wissensvorsprung des Erzählers existiert nur der Möglichkeit nach, da der allein durch Erzählen aktual werden kann, mit dieser seiner Verwirklichung aber gerade aufgehoben wird. Sobald sich herausstellt, dass der Erzähler etwas wusste, was der Leser nicht weiß, weiß der Leser es nun auch. In den »Aufzeichnungen« aber verkehrt sich dieses Verhältnis. Das potentiale Vorher-Wissen des Erzählers wird zwar Wissensangleich, doch der Leser behält das Wissen, während der demente Erzähler es wieder vergisst.
Auch auf der Ideenebene hat der Roman es in sich. Das zu Beginn angeschlagene Thema der Psychologie eines Mörders wird bald als Gelegenheit für Tieferes kenntlich. Viel mit Forensik ist hier nicht. Ein paar klassische Elemente der Verhaltensanalyse (Mangel an Empathie, permanente Wut, der Unterschied zwischen Schuldgefühl und Scham) werden umschrieben, doch all das bleibt äußerlich, klinisch fast und kühl. Wir sehen Trieb ohne Struktur, pathologisches Verhalten ohne innere Kollisionen. Ähnlich beim politischen Hintergrund. Der Konflikt mit dem Norden, die Studentenproteste der Achtziger, die Militarisierung von Alltag und Bevölkerung, die rigiden Familientraditionen spielen hier eine bloß beiläufige Rolle. Einsam bleibt eine Erinnerung, die vage Zusammenhänge der blutrünstigen Verfolgung von Kommunisten mit dem Blutdurst der Erzählerfigur herstellt.
Das ist nicht die Geschichte eines Mörders. Es ist die eines Mörders, der sich nicht erinnert. Im Zusammenhang mit der persönlichen Geschichte des Autors, der aufgrund einer Vergiftung fast sämtliche Erinnerungen an seine Kindheit verloren haben soll, zeigt sich die Motivation. Das flächendeckende Vergessen fühlt sich anders an als das jedem Menschen bekannte punktuelle. »Es ist«, heißt es im Buch, »als hätte sich die Sache überhaupt nie zugetragen.« Das Vergessen bei Alzheimer geht auch darüber noch hinaus. Man vergisst nicht nur, was man wurde, man vergisst, was man werden wollte. Die Erzählerfigur spricht vom Verlust des Zukunftsgedächtnisses. Erst dass er wünscht, hofft und plant, macht den Menschen. Auch Genuss ist human, aber nicht spezifisch. Wir teilen ihn mit den Tieren.
Immer wieder nun wird das Schreiben, das Aufzeichnen des Geschehens zum Thema. Nahe liegt natürlich, dass das Aufschreiben eine Stütze gegen das Vergessen ist. Und hier zeigt sich, dass hinter der Demenz, die bereits hinter der Pathologie des Mordens als tieferes Thema hervortrat, noch ein drittes lauert, die kulturelle Funktion der Schriftlichkeit nämlich. Die Bedeutung der Schrift für die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft ist auch lange Zeit nach den Arbeiten Jack Goodys nicht so ins alltägliche Bewusstsein gesickert wie etwa die der Sprache oder die der industriellen Revolution. Schrift, indem sie Sprache objektiviert, in materielle Form überführt und von ihrem Urheber abtrennt, konserviert Inhalte, die vor ihrer Erfindung immer nur existierten, indem sie gerade gedacht wurden. Damit waren sie einer Veränderung unterworfen, wie auch die Erinnerung nie eine exakte Dokumentation des Geschehenen sein kann. Schrift kann Inhalt tatsächlich fixieren. Das Aufschreiben vergangener Ereignisse oder künftiger Vorhaben wird somit für Menschen, deren Erinnerung schwindet, zur besonderen Hilfe, sei es wie hier auf Papier oder wie in Nolans »Memento« auf Haut. »Es ist ein bizarres Gefühl«, schreibt Kim, »von eigenen Handlungen, Gedanken und Worten zu lesen, an die ich mich nicht erinnere.« Dem Leser wird dieses Gefühl auf vertrackte Weise unmittelbar. Er erlebt den Wert des Notierens mit; weiß nichts, wenn er mit dem Lesen beginnt, Seite um Seite vervollständigt sich das Bild. Während die an Alzheimer leidende Erzählerfigur dieses Bild Stück für Stück aus dem Gedächtnis verliert. Es vergegenständlicht sich außer ihm, was dem Vorgang des Schreibens überhaupt entspricht. Der Leser steht am Anfang dort, wo die Figur dem Krankheitsverlauf nach am Ende stehen muss, und der fragmentarische Charakter, das sukzessive Zusammensetzen von Informationen und Freilegen von Beziehungen macht diesen Prozess invers erfahrbar.
Kim Young-Ha
AUFZEICHNUNGEN EINES SERIENMÖRDERS
Roman
Aus dem Koreanischen von Inwon Park
Bad Berka (cass verlag) 2020
152 S., gebunden
ISBN 978–3–944751–22–1
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in: ND v. 2. Juli 2020.
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