… und seine Selbstermächtigung: Enno Stahls gesammelte Essays »Diskursdisko«
Vor bald sieben Jahren legte Enno Stahl mit »Diskurspogo« (2013) eine Sammlung von Essays vor, die sich mit Spielarten populärer und subversiver Gegenwartsliteratur befassen. Im jetzt veröffentlichten »Diskursdisko« weitet und schärft sich zugleich der Blick; ersteres, indem der Autor länger in die Literaturgeschichte zurückgreift, bis zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, letzteres, indem sein Konzept eines Analytischen Realismus im ersten Teil des Bands systemischen Charakter erhält. Maßgeblich bei all dem bleibt ein soziologischer Zugriff, der sich sträubt, Literatur ohne gesellschaftliche Voraussetzungen und politische Folgen zu betrachten. Dieser Ansatz hat in sich, dass Probleme um Handwerk und Genre, eigentlich Ästhetisches also, kürzer kommen als jedenfalls nötig. Andererseits kann kein Theoriewerk – gleich welches, zu gleich welchem Thema – alles leisten. Was also leistet »Diskursdisko«?
Das große Verdienst, den Begriff des Realismus wieder aufs Tableau gehievt und positiv besetzt zu haben, ist schon Geschichte. Er war nie so gründlich aus der Literatur gebannt wie etwa aus dem Feld des Theaters, was das stärkere Geklapper erklärt, mit dem Bernd Stegemann vor ein paar Jahren zu Werke ging. »Diskursdisko« bleibt eine gediegene Schrift, die sich vom exaltierten Gestus ihres Gegenstands – er mag Rainald Götz, Christian Kracht oder Juli Zeh heißen – nicht anstecken lässt.
Keine Monographie gleichwohl, die enthaltenen Texte sind nach ihrem Anlass selbständig, dennoch greifen sie thematisch ineinander, was insbesondere im ersten Teil »Literatur und Gesellschaft« die Zusammenschau einer konsistenten Vorstellung von Literatur ermöglicht. Dort entwickelt Stahl von mehreren Seiten her seinen »Analytischen Realismus«, während die Essays im zweiten und dritten Teil, worin es exemplarisch um die Literaturproduktion des frühen 20. Jahrhunderts und der jüngsten Gegenwart geht, eher veranschaulichenden Charakter besitzen. Manches ist fast ausschließlich deskriptiv, Reportage mit zeitlichem Abstand. Stahls Abhandlung zur »Widerentdeckung der Mündlichkeit« etwa liest sich flott weg, allein es fehlt die theoretische Bewältigung des Stoffs. Dass Poetry-Slam-Texte performativ geprägt, durch die Bühne vermittelt sind, scheint zudem schon wieder Vergangenheit dieser Kunstform, da heutige Live-Autoren, bei denen Wirkung von Stimme und Persönlichkeit gleich neben der des Wortes steht (Ahne, Salmen, Kling u.a.), längst auch in rein schriftlicher Form Erfolg haben. Interessanter wäre hier, das Bessere vom Durchschnitt zu scheiden und mit Rücksicht auf Ähnliches in anderen Bühnen-Genres – Kabarett (Günter Paal), HipHop (Käptn Peng), Piano-Chanson (Krämer, Tschirpke) etc. – gerade umgekehrt das Eindringen reiner Literatur, die des Vortrags nicht bedürfte, in die Eventkunst zu untersuchen.
Der ergiebigste, erste Teil des Buchs eröffnet mit Beiträgen zur sogenannten Kessler-Debatte, die sich um die Frage entspann, inwiefern heutige Hochliteratur einfach Kunst von privilegierten Schichten für privilegierte Schichten sei. Stahl konstatiert, dass der Literaturbetrieb mit seinem elitären Charakter nichts anderes tue als die eklatante Ungerechtigkeit der Gesellschaft überhaupt abzubilden, was weder ästhetisch noch politisch als Rechtfertigung gemeint ist. Dass die Literatur heute zum »Helfershelfer der Exklusionsprozesse herabgesunken« sei, bestätige nicht nur ihren Klassencharakter, es hindere sie auch daran, große Literatur zu werden. Stahl begreift Dichtung primär als Instrument der Erkenntnis und knüpft diese Funktion, in der Tradition des Avantgardismus, an das Hervorbringen neuer Formen. Da »handwerklich vorbildliche« und konforme Literatur mehr oder weniger identifiziert werden, nimmt es nicht Wunder, dass weder der bürgerliche Realismus des 19. Jahrhunderts noch die sozialistische Klassik (Hacks, Kant, Mickel v.a.) im Blickfeld des Autors erscheint, dass Genres wie Fantasy und Science Fiction in ihrem Vermögen zum poetischen Realismus nicht gewürdigt, sondern als Gelegenheit gesehen werden, in »mysteriöse oder phantastische Welten abzudriften«, dass mithin der Begriff der Totalität ebenso fehlt wie eine handhabbare Unterscheidung zumindest epischer und dramatischer Verfahren. Ein paar widerwillig anerkennende Äußerungen zu Georg Lukács (dessen elaborierte Argumentation in der Moskauer Expressionismus-Debatte aber zugleich ignoriert wird) sind hier das Äußerste.
Wo die Frage der Form außer Betracht ist und vielmehr von Inhalten und Tendenzen, von der Haltung des Autors die Rede geht, macht das Buch den stärksten Eindruck. Realismus erschöpft sich für Stahl nicht in der bloßen Abbildung von Machtmechanismen, Literatur müsse zugleich deren Wirkung auf das Bewusstsein der Betroffenen zeigen, das Hervortreten von Formen des Hasses, der Angst, des Egoismus untersuchen. Damit wird der Realismus nicht nur analytisch scharfgemacht, sondern auch als Waffe im Kampf gegen die rechte Welle unserer Gegenwart. Stahl attackiert die Liquidation des Autors durch Barthes und Foucault in diesem Zusammenhang als reaktionär, denn wo der Autor nicht mehr vorhanden, bleibt auch nichts von seiner Verantwortung. Dem Tod des Autors wird seine Selbstermächtigung entgegengesetzt. Davon – den Schwierigkeiten des Schriftstellers, sich gegen die Zwänge des Marktes, der medialen und betrieblichen Umstände sowie die eigene Herkunft durchzusetzen – handelt das gesamte Buch.
Dass Stahl im wesentlichen den Positionen Brechts zuneigt, mag man mögen oder nicht, es kommt seinem Anliegen zugute. Man sieht die Arbeit eines geraden Verstandes, der konsistenter argumentiert als der stets fragmentarische Brecht, und in gewisser Weise lässt sich »Diskursdisko« als Versuch deuten, einige Elemente des Brechtschen Credos in klare Form und heutige Zeit zu bringen. Was Stahl von der schönen Literatur fordert, dass sie weniger ausgefallen und mehr typisch sei, ist in seiner Theorie durchaus erfüllt.
Enno Stahl
DISKURSDISKO
Über Literatur und Gesellschaft
Berlin (Verbrecher Verlag) 2020
176 S., gebunden
ISBN 978–3–95732–429–0
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in: junge Welt v. 11. März 2020.
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