»1917«
Film ist ein Ding, das tut, als sei es Vorgang. Oneshot eine Szene, die tut, als sei sie Film. »1917« nun ein Film, der tut, als sei er Oneshot. Spielerei mit Weltkrieg also? Es fing ja früh an, mit Hitchcocks »Rope« (1948), wo die Bemühung einer kontinuierlichen Einstellung noch durch die Laufzeit der Filmrollen begrenzt war. Folglich musste er genau das machen, was Sam Mendes jetzt freiwillig tut – einen Film schneiden, der wie ein ungeschnittener aussieht. Genauso verhält es sich bei »Birdman« (2014) und dem zu Recht kaum beachteten »Bushwick« (2017). Tatsächlich ungeschnittene Filme wie »Russian Ark« (2002), »Victoria« (2015) oder »Utøya 22. Juli« (2018) verenden dagegen, weil die Produktionsnotiz zur Hauptnachricht wird. Was »One Cut of the Dead« (2017) wenigstens ins Witzige wendet, insofern dieser Film die eigene Entstehung miterzählt. Der tatsächliche Oneshot bleibt beschränkt; man kann nicht das beste Material wählen, muss auf die szenischen Möglichkeiten der Montage verzichten, zeitlich gebunden bleiben. Der scheinbare Oneshot ist die größere Herausforderung; seine Schnitte müssen elegant verborgen, alles im Takt und am Ort gehalten sein. Wen interessiert, was am Set passierte? Entscheidend ist auf der Leinwand.
Manche Einstellungen in »1917« sind tatsächlich nicht länger als 2 oder 3 Minuten, und gewiss, man sieht, wo die Schnitte sind, aber man sieht sie nicht. Gerade weil das hier so geschickt umgesetzt wurde (zudem bei höllisch kompliziertem Setting), ist »1917« ein Höhepunkt der Genrebemühung. Dabei ging vielleicht die Frage unter, ob die Erzählung dem Stoff gerecht wird. Die britischen Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay) erhalten während der Kirschblüte 1917 den Auftrag, sich entlang der Front zu einer Division durchzuschlagen, die eine scheinbar verlassene Stellung der Deutschen angreifen will. Die Aufklärung hat ermittelt, dass die Soldaten mit dem Rückzug in eine Falle gelockt werden sollen. Die Kamera folgt den beiden. Während Schofield resigniert seinen Dienst verrichtet, ist Blake voller Idealismus, zudem persönlich motiviert, da sein Bruder in erwähnter Division dient.
Sieht man ab von einem dramaturgisch notwendigen, deutlich als Schnitt herausgestellten Zeitsprung sowie einer unerwartet frühen Peripetie, ist die Erzählung ziemlich geradeaus. Da auf Rückblenden, Parallelmontagen, Entfaltung der Handlung an mehreren Orten verzichtet wird, muss der Star die Landschaft sein. Das Szenenbild überwältigt, nicht nur, was Weite und Länge, auch was die Vielfalt betrifft. Zerkraterte Schlachtfelder und Schützengräben, Höhlen und Wiesen, Wälder und Flüsse, Bauernhöfe und Ruinen lösen einander ab, und all das nicht als tote Kulisse, sondern belebt von Ratten, Fliegen und Krähen, Soldaten, Geschützen und Motoren. Strengen Stils sind Licht und Farben: Sepiabraun die Uniformen, Schwefelgelb die Landschaft, Rauch und Nebel, selbst das Wasser. Kein Lichtstrahl dringt durch die Wolkendecke. Visual-stilistisch erinnert eine Sequenz an Tarkowskis »Stalker« (1979), andere an »The Revenant« (2015) oder »Dunkirk« (2017). Intensive, Spannung unerbittlich steigernde Musik wie ein auch jenseits der Gefechte bedrückender Tonschnitt arbeiten dem Gesamteindruck hinzu. So meisterhaft symphonisch das alles gemacht ist, es richtet sich ausnahmslos auf den Moment. Der Stil scheint die Nachricht.
Man versteht den Ersten Weltkrieg, wenn man ihn gegen den Zweiten hält. Anders als dort fehlt hier die sittliche Differenz. Es gab kein besser oder schlechter, nur inner-imperialistische Konkurrenz, eine Feindschaft gerade aus Gleichartigkeit, dürftig versteckt hinter vaterländischem Gebrüll. Es war völlig gleich, ob dieser oder jener Konzern, dieser oder jener Staat Vorteile in Rohstoffen und Absatzmärkten erlangte.
Diese Nichtigkeit zeigte sich ebenso an der militärischen Form, dem Stellungskrieg. Millionen starben, ohne dass sich was bewegte. Im dauerhaften Töten ohne Gewinn sprießen dumme Gedanken besonders gut. Dem einen (Andrew Scott), der seinen Frontabschnitt mittlerweile wie die eigene Westentasche kennt, scheint alles gleichgültig, den anderen (Benedict Cumberbatch) treibt die schwer erträgliche Stagnation in die Tollkühnheit, ein dritter (Marc Strong) sagt den traurigsten Satz des Films: »Nachdenken führt zu nichts.« Wenn eine gesellschaftliche Lage falsch ist, kann ein Satz zugleich ganz stimmig und ganz falsch sein.
Der Film gibt sich diesem Pessimismus zu sehr hin, als dass man dergleichen bloß für Rollenprosa halten könnte. Zumindest im Ethischen aber wächst er über seinen Stoff hinaus. Ein Auftrag verselbständigt sich, eine Haltung geht vom einen auf den anderen über, eine Sache wird wichtiger als ihr Anlass. Erst die Überwindung persönlicher Motive macht wahrhaft persönliches Handeln möglich. Es gibt einen sowjetischen Film, der einer ähnlichen Idee folgt: »Der Vater des Soldaten« (1965).
Der Einzelne muss eingreifen, wo die Organisation versagt. Die Handlung übersetzt dieses Verhältnis in räumliche Struktur. Während die Bewegung der Armee vertikal, also gegen den Feind geht, bewegen die Helden sich horizontal, an der Frontlinie entlang. Ihr Auftrag ist nicht Töten, sondern Töten verhindern. Der Soldat als Querschläger. In einer grandiosen Szene am Ende, worin Schofield während eines Angriffs übers Schlachtfeld läuft, erscheint das in Bildsprache umgesetzt. Es wird vielleicht die Kamerafahrt des Jahres, sicher ist es Filmgeschichte.
»1917«
USA, Großbritannien 2019
Regie: Sam Mendes
Drehbuch: Krysty Wilson-Cairns, Sam Mendes
Darsteller: George MacKay, Dean-Charles Chapman, Benedict Cumberbatch, Andrew Scott, Colin Firth, Mark Strong
Länge: 110 Minuten
Starttermin: 16. Januar 2020
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in: junge Welt v. 16. Januar 2020.
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