»Paranza – Der Clan der Kinder«
Dieser Film hat gleich mehrfach schwer Erbe tragen. Roberto Saviano, Autor der Vorlage »La paranza dei bambini« (2016) und Co-Autor des Drehbuchs, hatte 2006 mit »Gomorrha« eine Publikation hingelegt, die derart ins Herz Süditaliens traf, dass er seither unter Schutz vor diversen Mafia-Clans leben muss. 2008 wurde »Gomorrha« vom großen Matteo Garrone zum Spielfilm verarbeitet. Mit der politischen Verwicklung, der erzählerischen Wucht und Breite wie auch der inszenatorischen Meisterschaft des Vorgängers kann »Paranza« gewiss nicht Schritt halten. Der Film bleibt in vieler Hinsicht bescheiden, vermag aber genau darin seine Momente zu stiften.
Der 15jährige Nicola (Francesco Di Napoli) lebt in Neapel ohne Aussicht auf Wohlstand. Dort scheint der einzige Aufweg übers Verbrechen zu führen. Nach ungeschickten Versuchen, seinerseits Geld zu machen, gerät Nicola unter Mafia-Kreise. Als in Folge von Konkurrenzkämpfen und Zugriffen durch die Polizei die ansässigen Kader dezimiert werden, übernimmt er mit seinen Freunden die Kontrolle über Drogenhandel und Schutzgeld. Sein Vorsatz, die dreckigen Geschäfte auf ehrbare Weise zu führen, wird zunehmend aufgeweicht, und während er tiefer in den Sumpf gerät, scheint seine Liebe zu Letizia (Viviana Aprea) ihm einen Ausweg zu bezeigen.
Der klassische Anriss einer Rise-and-Fall-Story bleibt unerfüllt, da der Film keinen richtigen Anfang und kein Ende hat. Das passiert vorn sehr sensibel durch langsames Erzählen, das sich viel Zeit nimmt, bis Nicola endlich zur Macht kommt, zum Ende hin eher unterwältigend, indem Erwartungen ersatzlos enttäuscht werden. Die streng personale Erzählweise ist visuell gespiegelt in der beweglichen Kamera, die nah an der Hauptfigur bleibt, manchmal regelrecht über deren Schulter blickend. Auch die Dreharbeiten waren ganz in einer Linie. Claudio Giovannesi hat sich entschieden, die Szenen in der Chronologie des Geschehens abzudrehen – ein Mittel, das schon Spielberg für »E.T.« nutzte und das sich bei der Arbeit mit Laien oder Kindern als hilfreich erweist.
Der Unwille zur Distanz auf diesen drei Ebenen (Dreharbeit, Visualität, Erzählung) scheint den Charakter des Films insgesamt auszumachen. Es verschränken sich ja zwei Themen: die Mafia-Geschichte und die einer infantilen Ermächtigung. Wenn Kinder das Geschäft von Erwachsenen übernehmen, führt das – und alle außer Herbert Grönemeyer sind sich dessen bewusst – durchaus nicht zu mehr Menschlichkeit. Gerade seine Unschuld besorgt, dass das Kind im Sittlichen überfordert ist. Handeln braucht nicht Reinheit, sondern Entscheidung, und die kann bewusst nur treffen, wer in den Abgrund bereits geblickt hat. Die erzählende Kunst hat darauf verschieden reagiert. Ungezählte Werke idealisieren das Kindliche, andere (»Lord of the Flies« etwa) dekonstruieren es. Einige, und so »Paranza«, naturalisieren. In der Tat gibt der Film sich zufrieden, das Elend zu zeigen. Er bietet keine Perspektive an, die über die Subjektivität der handelnden Figuren hinausgeht, weder durch Sprachrohr- oder Schlüssel-Figuren (wie z.B. in »A Bronx Tale«) noch vermittels der dramatischen Struktur.
Die gestalterischen Vorteile sind offensichtlich, zugleich aber entsteht ein Mangel an Begriff, der einem orientierten Autor wie Saviano eigentlich nicht recht sein kann. »Es gibt keinen Staat mehr in irgendeiner Form, wie wir ihn kennen – denn Verhaftungen und Repressalien allein sind keine Lösungen, keine Prävention.« Das schreibt er, aber wir sehen es nicht. Abwesenheit ist noch keine Gestaltung; da erscheint keine Anatomie anstelle der Staatsstruktur, die Mafia hat keinen Körper.
Vielmehr konzentriert sich der Film, der für eine Milieustudie nicht breit und für eine Analyse nicht tief genug ist, auf seine Hauptfigur. Hier liegt sein eigentlicher Vorzug. Wenn man sich fragt, was elementar wirkt beim Herausbilden einer gesunden Persönlichkeit, die nicht sehr leidet unter anderen und unter der andere nicht sehr zu leiden haben, dann wären das wohl drei Erfahrungen: das Entdecken und Entwickeln eigener Fähigkeiten, durch die der junge Mensch über sich hinauswachsen kann; das Erleben von Freundschaft, wodurch soziales Verhalten außerhalb der festgezogenen Familienbeziehung sich ausbildet; und das Erleben von Liebe, die dem Individuum zeitweilig gestattet, von der fordernden Welt in jene organische Einheit zurückzukehren, die es beim Heranwachsen verlieren musste. Eine von der Mafia dominierte Umwelt deformiert nun diese elementaren Erfahrungen. Die Fähigkeiten, auf die allein es dort ankommt, sind die zu Mitleidlosigkeit und Unterdrückung, produktive Arbeit verkommt zur bloßen Geldbeschaffung; Freundschaft erscheint in soldatischer Form, als Loyalität der Bande; Liebe trägt in diesem vom maskulinen Schema geprägten Milieu stets sadistische, sexistische Züge und wird wie selbstverständlich der Fraternität nachgeordnet. Nicola glaubt, sich in dieser Welt bewegen zu können, ohne dass sie ihn deformiert, und dieser Glaube macht ihn nicht minder anfällig als diejenigen, die sich ihr gleich hingeben.
»Paranza – Der Clan der Kinder« [»La paranza dei bambini«]
Italien 2019
Regie: Claudio Giovannesi
Drehbuch: Roberto Saviano, Claudio Giovannesi, Maurizio Braucci
Darsteller: Francesco Di Napoli, Viviana Aprea, Pasquale Marotta
Länge: 105 Minuten
Starttermin: 22. August 2019
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in: junge Welt v. 27. August 2019.
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