Ich muss doch noch etwas breit werden heute Abend. Wenn man den ganzen Tag Bücher gesetzt hat, bleibt für die Nacht ein Durst nach Inhalt. Ich entschuldige mich bei allen, besonders bei der Ideologiekritik, die immer so niedlich zusammenzuckt, sobald es um Inhalte geht. Solche Dinge müsste man nicht ausstellen, wenn sie nicht ungemein stellvertretend für Zeit und Zustand der in ihr Verhafteten wären. Statt sich des Umstands zu freuen, dass eine Aktivistin Fidel Castro zitiert, kommentiert ein erklärter Kommunist den Vorgang um Carola Rackete wie folgt:
»Bin ich eigentlich der einzige ders irgendwie gruselig findet wenn irgendwer groß verkündet die Geschichte werde ihn freisprechen?«
Da ist zunächst die ideelle Ebene, auf der sich bereits fragen lässt, was das Problem sein soll dabei, dass jemand bestimmte Erwartungen an die Zukunft hat und sie entsprechend formuliert. Das ist noch ganz unabhängig davon, was da konkret geglaubt wird, denn der Punkt ist: Man kann nicht nicht glauben. Jeder hat eine Vorstellung von der Zukunft, und der Gedanke, dass heute gültiges Recht auch morgen gültig sein werde, ist nicht weniger gewagt als der Gedanke, dass das vorhandene Recht sich wandeln werde. Mehr aber steckt in der Aussage »Die Geschichte wird mich freisprechen« nicht drin. Es ist bezeichnend, dass der Kommentar sich nicht daran stört, was Captain Rackete glaubt, sondern daran, dass sie glaubt. Er sagt ja gar nicht, die Geschichte könne ihr erst dann recht geben, wenn eine Welt ohne Grenzen Wirklichkeit geworden sei, und das sei ein Luftschloss etc. Er sagt, es mache ihm Angst, dass jemand sagt, es werde einmal so kommen, wie er möchte, dass es kommt.
Das aber ist, zweitens, die Voraussetzung jeglicher Politik, die mehr tut als bloß Vorhandenes zu verwalten. Ohne die Setzung dessen, was nicht ist, aber sein soll, gibt es keine Umwälzung, kein revolutionäres, kein sozialistisches, ja nicht einmal ein sozial-reformistisches Moment. Es ist doch eigenartig, dass man das einem erklärten Kommunisten erklären muss.
Drittens haben wir das psychologische Moment, dass in einer Situation, in der jemand mit dem Rücken zur Wand steht, in der ihm langjährige Haft droht, solche Sätze fallen, durch die die betroffene Person nicht zuletzt sich selbst Kraft gibt, Haltung zeigt nach außen und nach innen. Racketes Satz steht in einer Reihe mit Levines »Wir Kommunisten sind Tote auf Urlaub« und anderem Geklapper im Angesicht des Galgens. Es wäre also mindestens eine Frage des Fingerspitzengefühls gewesen, den Kommentar oben in dieser Situation nicht zu schreiben.
Viertens erinnert der Post die Gepflogenheit, linken Bewegungen, wo immer und sobald sie entstehen, von der Seite eins reinzudrücken, noch ehe überhaupt etwas Fahrt aufkommt. Das ist nun auch nichts neues unter Ideologiekritikern und bei Lichte deren einziges Geschäft, aber persönlich sollte sich ein jeder fragen, was ihm selbst am wichtigsten ist, wo für ihn der Schwerpunkt liegt. Hier geht es zunächst einmal um die Rettung von Menschenleben, einen notwendigen Akt der Zivilcourage. Darin zumindest sollte der gemeinsame Nenner liegen, auch wenn man verstanden hat, dass »no border, no nation« bloß die links-romantische Antwort auf den EU-Chauvinismus respektive die rechts-romantische Idee eines reinen Volkskörpers ist.
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