Jun 272019
 

»Five Fingers for Marseilles«

»Die einzige Art Veränderung hier ist die Zuspitzung.« Wenn so ein Satz in einem südafrikanischen Film fällt, will das was heißen. Vielleicht, dass die Überwindung der Apartheid zugleich den Abbruch einer umfassenderen Entwicklung markierte, einer, die über die juristische Form hinausgeht. Dieser Film spielt, durch einen Sprung von 20 Jahren, in zwei verschiedenen Zeiten, und zugleich spielt er mit ihnen, indem sich das alte und das neue Südafrika kaum unterscheiden: Kein Fortschritt, keine Prosperität, kein Zuwachs an Glück wird am Gefälle kenntlich. Nur die Schusswaffen sind moderner.

Wir sehen Ewigkeit der unheimlichen Sorte. Alles ist Landschaft, Sonnenlicht und trockene Weite, Gleise, auf denen nie ein Zug fährt, die also ins Nichts führen. »Die Erde«, heißt es, »ist unsere Heilige Schrift. Sie war vor uns da und wird nach uns da sein.« Die Vormacht der Natur gegen die Gesellschaft wird dort geglaubt, wo die Gesellschaft die Natur bloß nachahmt statt ihr Gegenentwurf von Menschlichkeit zu sein. Der zwar bescheuerte, doch vorm Hintergrund der gezeigten Erfahrung nachspürbare Gedanke, dass alles politische Wirken vergeblich sei, legt sich mit Schwere auf Personen und Handlung.

Ort des Geschehens ist Marseilles, eine schäbige Barackenstadt, deren Name verrät, dass sie von kolonialen Siedlern gegründet wurde. Dort leben zur Zeit der Rassentrennung fünf Jungen und ein Mädchen. Es beginnt wie eine jener aufdringlich konstruierten Erzählungen – Goscinnys »Geschichten vom kleinen Nick«, »TKKG«, »Die Goonies« usf. –, in denen die einzelnen Kinder selten mehr sind als Träger einer markanten Eigenschaft. Hier ist Zulu, der Chef ohne Furcht, Unathi, der Geistliche und Geschichtenerzähler, Luyanda, den sie ›Kakarlake‹ nennen, Bongani, der Genießer mit dem Wanst, Tau, der zornige ›Löwe‹, und Lerato, deren Funktion sich darin erschöpft, das Mädchen der Gruppe zu sein. So weit, so schematisch, doch dann geht alles ganz schnell. Eine Inspektion eskaliert, und Tau tötet zwei Polizisten. Nach der Blende sind 20 Jahre vergangen, Tau kehrt aus dem Gefängnis zurück. Das System der Apartheid ist verschwunden, aber der finstere Sepoko, der sich als Teufel und zugleich Messias sieht, regiert die Umgebung. Luyanda, der jetzt der Polizei vorsteht, und Bongani, der als Bürgermeister arbeitet, leben in Koexistenz mit Sepokos Bande. Diese geordnete Unordnung wird, wie die schlechte Ordnung damals, durch das Eintreffen Taus aus dem Gleichgewicht gebracht. Mit dem Zeitsprung springt der Film in ein anderes Genre.

»Five Fingers for Marseilles« hat nicht nur viel von einem Western, er ist gefüllt mit Anspielungen. Besonders an Leone muss man denken, wenn zu Beginn wie auch am Ende die berühmte Duell-Szene aus »Zwei glorreiche Halunken« bildhaft zitiert wird, wenn Tau als »Nobody« zurückkehrt, wenn er schweigt wie der Namenlose in »Spiel mir das Lied vom Tod«, wenn er niedergetrampelt wird wie der Fremde in »Für eine Handvoll Dollar«. Überhaupt gleicht die Konstruktion dem letztgenannten Film, insofern auch hier sich ein schwer durchbarer Akteur zwischen zwei verfeindeten Gruppen bewegt. Das alles sind keine leeren Spielereien, denn Western meint stets den ungenügend entfalteten Staat, in dem Freiheit noch tödlich ist und Sicherheit ein Privileg, das man sich leisten können muss.

Eben darauf scheint dieser Film abzuheben, eine destruktive und jeder Zuversicht ledige Klage über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Landes, das ein alles erdrückendes Übel gegen ein alles durchdringendes eingetauscht hat. Durch den harten Schnitt, der die 20 Jahre überspringt, wird der Zuschauer unvermittelt in den neuen Status geworfen. Von der staatlichen Repression in den Terror der partikularen Interessen, bei dem die Polizei bloß ein weiteres Racket ausmacht, und nicht einmal das stärkste. Mit dem Wegfall der Apartheid regieren die genuinen Banden, eine endlich vollprivatisierte Mafia, die keine Marken und Uniformen, keinen Anstrich von Legalität mehr braucht. Das bürgerliche Zeitalter hat die Reste der kolonialen Ordnung abgestreift und scheint ganz bei sich angekommen.

Hier, 20 Jahre später, zeigt sich, dass die schematische Konstruktion der Kindergruppe einen mehr als bloß narrativen Sinn hatte. Sie lässt sich jetzt als Metapher für den Zerfall der schwarzen Bevölkerung verstehen, die unter der Repression von außen zusammengehalten wurde. Tau kommt aus dem Gefängnis, Zulu ist gestorben, Bongani wurde Bürgermeister, Luyanda Sheriff, Unathi Priester, Lerato versucht irgendwie zurechtzukommen. In den Konflikten der neuen Zeit stehen sie auf unterschiedlichen Seiten, als Kinder konnten sie noch Freunde sein. Sie verkörpern die verschiedenen Wege der ehemals Widerständigen: Tod, Arrest, Aufstieg, Dienstbarkeit, Rückzug ins Geistige, Rückzug ins Private.

Es ist folgerichtig, dass der Anführer der Gruppe, Zulu, der ihr Ordnung, Maß und Richtung geben konnte, heute tot ist, und dass ihr Motor – Tau, der Löwe – lange Zeit abwesend war. Bongani ist ein schlechterer Zulu, Lyanda kein besserer Tau. Er, der dienstbare, kann der Motor nicht sein, auch wenn er sich zum neuen Löwen erklärt, nur auch der Löwe selbst kann es nicht. »Du hast«, sagt Unathi zu Tau, »nie für die Befreiung gekämpft. Du hast bloß gekämpft.« Der Film erschafft ein unwirkliches, schwer verständliches Finale, das wohl auf finstere Weise sagen soll, dass es keine Lösung des Elends durch die Hände eines Einzelnen gibt. Das heroische Szenario des zurückkehrenden Löwen erweist sich als Irrlicht.

»Five Fingers for Marseilles«
Südafrika 2017
Regie: Michael Matthews
Drehbuch: Sean Drummond
Darsteller: Vuyo Dabula, Zethu Dlomo, Hamilton Dhlamini
Länge: 120 Minuten
Starttermin: 27. Juni 2019

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in: ND v. 27. Juni 2019.

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