Auf Fragen, die man erst haben kann, wenn man den Film gesehen hat
Ein spekulativer Inhalt kann nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden, schreibt Hegel. Gibt es Grenzen des spekulativen Zugangs? Oder konkreter gefragt: Ist die Shoa spekulativ zu denken?
Es gibt Gegenstände, die nicht im spekulativen Zugriff aufzuheben sind. Weniger aus theoretischen Gründen, sondern weil es sich moralisch verbietet. Dass dem Antisemitismus keine produktive Seite abzugewinnen sei, versteht sich praktisch und muss nicht begründet werden. Für Antisemiten ist die Begründung nicht möglich, für Nicht-Antisemiten ist sie nicht nötig.
Zur Irrationalität als Produktivkraft – Was ist für Dich ein treffendes Beispiel aus Wissenschaft, Politik oder Zeitgeschichte, dass etwas theoretisch falsch, aber praktisch richtig sein kann?
Ich rede noch gar nicht von so naheliegend banalen Beispielen wie der Erfindung des Porzellans durch den Alchimisten Böttger oder vom Umstand, dass die Überlieferung der Linear-B-Schrift einem Palastbrand, einem Akt der Zerstörung also zu danken ist. Das sind Kontingenzen. Aber nehmen wir die Funktion des Nationalismus bei der Befreiung kolonialer Länder oder die der Religion bei der Formierung der europäischen Nationalstaaten oder der Aischrologie bei der Entwicklung der Komödie und Darstellenden Kunst oder der politischen Misere für den Deutschen Idealismus. Auch jede Revolution beruht auf falschen, die Zeitumstände überfordernden, idealen Vorstellungen. In der Umwälzung finden sich Gruppen zu einer Negativkoalition, die aufgrund des Beieinanders sich ausschließender Ziele bald wieder zerfallen muss. Ohne die falsche Annahme und ohne die Illusion eines solchen Bündnisses könnte Vernunft nie Gestalt annehmen. Und wenn sie es tut – in stabilisierten ökonomischen, politischen oder kulturellen Verhältnissen –, bildet sie umgehend einen mit Irrationalität aufgeladenen Überbau heraus, ein Geflecht von Ideologien, durch das die Gesellschaft sich mit sich selbst verständigt. Dieser Überbau hat festigende, ventilartige, aber auch mobilisierende Funktion, gerade weil er zum Teil aus Unsinn besteht.
Warum sind die Feuerbach-Thesen eine empfindliche Revision des Standards, den die Hegelsche Philosophie gesetzt hat?
Für Hegel ist Philosophie ihre Zeit in Gedanken gefasst; sie muss dem Gegenstand als eigenständige Macht gegenübertreten und ein System bilden. Es ist nicht ihre Aufgabe, in die Welt zu wirken, zumindest nicht ihre primäre. Jene Momente des praktischen Überschreitens, wie die Feuerbachthesen sie mit guten (aber nicht philosophischen) Gründen fordern, sollen von der Philosophie nicht hervorgebracht, sondern ins Denken integriert werden, sobald sie vorliegen oder sich anbahnen. Die Revision der Thesen liegt darin, dass das notwendige Überschreiten durch Praxis, die Veränderung der Welt, als hinreichend verstanden, die Philosophie mit der Politik verschmolzen und das heißt praktisch: ihr untergeordnet wird. Was immer schon verschmolzen sein soll, kann aber nicht mehr zueinander in Beziehung gesetzt werden. In der Tat haben die Philosophien die Welt verschieden interpretiert. Und die, auf die es ankommt, sehr wohl als veränderbare.
Warum ist das Absterben des Staates mit Abstand die größte Schwachstelle im Marxschen System? Wieso war diese Idee politisch am fatalsten in ihrer Auswirkung? Und gestatte mir, dass ich die Frage eines fiktiven, aber plausiblen Zuschauers stelle: »Herr Bartels, sind Sie etwa Nationalist?«
Lenins Gedanke, dass das Absterben des Staates auf dem Weg seiner Entfaltung und nicht seines Abbaus stattfinde, war die marxistische Weise, Vernunft anzunehmen. Gleichwohl beruht dieser Ansatz noch immer auf der Vorstellung, dass der Staat etwas Vorläufiges sei, das sich aus unvollkommen entwickelter Gesittung ergibt. Aber der Staat ist die Gesittung. Die Kollisionen der Gesellschaft werden immer politischen Charakter haben und einer Regulierung und Formung bedürftig sein, auch in einer klassenlosen Gesellschaft. Gerade der Marxismus täte gut daran, staatsängstliche Romantik hinter sich zu lassen. Der Staat interessiert mich dabei in seiner Wirkung, seiner Architektur und Funktion nach innen. Nationalstaat ist er erst im Verhältnis gegen andere Staaten. Als sittliche Idee bedarf er des Nationalismus nicht, doch als reale Einrichtung bildet er eine Nation aus, die in irgendeiner Weise ein Verhältnis zu sich selbst entwickeln muss. Man kann diesen Zusammenhang erkennen, ohne selbst Nationalist zu sein.
Wie lauten die zentralen Forderungen des sowjetischen Ökonomen Liberman, auf die Du Dich beziehst, und warum besitzen diese Wirtschaftsreformen für Dich Modellcharakter?
Libermans Aufsatz war ein Impuls, der in der DDR auf vielen Wegen und in einem 8 Jahre dauernden Prozess der Installation und Anpassung zum Neuen Ökonomischen System führte. Der Prozess wurde mit der Machtübernahme Honeckers abgebrochen. Ich halte den Ansatz für modellhaft, weil er den Versuch darstellt, Plan und Markt – also Gerechtigkeit und Wachstum, Gleichheit und Reichtum, Notwendigkeit und Freiheit – zu vermitteln, und weil ich vermute, dass jede Form des Wirtschaftens in komplexen Größenordnungen Beziehungen hervorbringen muss, die denen der Warenproduktion ähneln. Man kann versuchen, wie in der NÖS-Periode, diese Beziehungen zu modifizieren, ganz beseitigen kann man sie nicht.
Wieso liegt die Neue Marx-Lektüre u.a. falsch in ihrer strikten Trennung von Marx und Engels? Welchen Zweck erfüllt diese Trennung hinsichtlich ihrer theoretischen Arbeiten?
Diese Trennung ist das anschauliche Ende des Bedürfnisses, aus Marx die Politik zu entfernen. Davon zu unterscheiden wäre die theoretische Bedeutung der Neuen Marx-Lektüre. Die Zurückweisung der logisch-historischen Interpretation, die Engels mit Marxens Kenntnis und Billigung unternommen hat, halte ich für falsch; gleichwohl hat die NML durch enge Arbeit am Text wichtige Zusammenhänge freigelegt. Es ist bloß kein Zufall, dass nahezu alle Vertreter dieser Richtung den Klassenkampf ablehnen und jedem politisch organisierten Versuch, Kapitalismus tatsächlich zu überwinden, kritisch gegenüberstehen. Die strikte Trennung von Marx und Engels erweist sich hierbei als, nunja: zweckmäßig.
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Fragen: Mikko Linnemann (www.gegenfeuer-produktionen.de)
Anlass: »Im Vorhof der Geschichte – Celebrating Marx«. Essayfilm, 2019, 94 Minuten
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