Tschechow auf DVD: »The Seagull«
Den Spoiler gleich vorwegzunehmen: Auch dieser Adaption gelingt nicht, Tschechows ursprüngliche Intention umzusetzen. »Die Möwe« war gedacht als bittere Komödie über das sich an sich selbst langweilende Bürgertum. Doch Tschechows Absicht, seine Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben, hat es nie bis ins Stück geschafft. Die Charaktere mögen miese Typen sein, es sind doch Charaktere. Keine halbwegs redliche Inszenierung könnte das verdecken, und da es dem Stück andererseits an oberflächlichem Witz fehlt, fällt jede Auslegung, von Stanislawski bis in die Gegenwart, fast zwingend aufs Betrübliche zurück.
Die Verfilmung hält sich eng an die Vorlage. Das durchgreifende Thema ist unerwiderte Liebe – in allerhand möglichen vordergründigen und übertragenen Varianten. Kostja wird geliebt von Masha, liebt aber Nina. Nina liebt Boris, der auch von Irina geliebt wird, die ihrerseits die Liebe ihres Sohnes Kostja nicht erwidern kann. Nina liebt die Schauspielerei, ohne Talent hierfür zu haben, Kostja liebt die Poesie, die ihn nicht widerliebt. Irina liebt ihr Publikum, dessen Interesse merklich schwindet, Boris, der vom Publikum unvermindert geliebt wird, ist unfähig, irgendwas zu lieben als sich selbst.
Wer hierbei an eine Telenovela denkt, sollte berücksichtigen, dass in Tschechows weidlich kompliziertem Geflecht 10 handelnder Personen, übers Milieus hinaus, die großen menschlichen Fragen auf die Bühne gelangen: das Verhältnis von Alter und Jugend, Form und Inhalt, schöpferischer und darstellender Künste, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Überzeugung und Opportunismus. Das dramatische Zentrum des Stücks ist Kostja, in dem Tschechow zugleich das Aufkommen eines neuen Typs Schriftsteller bewältigt hat. Bei Balzac waren Handlung und Philosophie noch beisammen, Totalität als sinnlich fassbare Einheit herstellbar. Das Gefühl, der Welt mit Erzählung nicht mehr beikommen zu können, provoziert zur Theorie im epischen Gewand. Entsprechend zerfällt das Stück in Kostja und Boris. Der eine kann erzählen, hat aber nichts mitzuteilen. Beim anderen ist es genau umgekehrt. In dieser Entzweiung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit macht Kostjas Zurückweisung durch Nina – selbst dann, als er Erfolg hat und sie von Boris verlassen wird –, dem jungen Mann klar, dass er, der sich immer auf den innerlichen Wert berufen hat, im Innersten nicht genug ist. Für Nina, und sie repräsentiert den kleinen Teil der Gesellschaft, den der Künstler bei aller Verachtung derselben dann doch braucht.
Von diesen Zusammenhängen transportiert der Film gerade so viel als nötig ist, um zu funktionieren. Ästhetisch setzt er kaum was hinzu. Eine Prolepse zu Beginn, den Möglichkeiten des Films gegenüber dem Theater entsprechend, macht keine spezifisch filmische Leistung. Die Kamera folgt bloß der dialogischen Struktur. Ein Gefühl für den Raum entsteht ebenso wenig wie eine Bildsprache. Man sieht den Wechsel des Mediums ohne Wechsel der Form, einen Film also, der sich auf die Leistung der Darsteller und die erprobte Qualität der literarischen Vorlage verlässt.
»The Seagull«
USA 2018
Regie: Michael Mayer
Drehbuch: Stephen Karam
Darsteller: Saoirse Ronan, Annette Bening, Billy Howle, Elisabeth Moss
Länge: 98 Minuten
DVD-Start: 18. Oktober 2018
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in: ND v. 28. November 2018.
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