»Goodbye Christopher Robin« erzählt die Geschichte hinter der Geschichte von »Winnie-the-Pooh«
Der Reiz eines Making-of-Films liegt in der Spannung zwischen Werk und Entstehung. Die Geschichte hinter der Geschichte muss irritieren, oder sie bleibt banal. Bei »Shakespeare in Love« (1998) ist es das fehlende biographische Material, das den Einfall gestattet, Shakespeare habe sich die Ideen für »Romeo und Julia« aus seiner Umgebung geholt. »Miss Potter« (2006) erzählt brav die Entstehung von »Peter Rabbit« herunter, und mehr nicht. »Ed Wood« (1994) und »The Disaster Artist« (2017) sind bereits durch die Wahl ihrer Subjekte boshaft, während sich »Hitchcock« (2012) und »Genius« (2016) tatsächlich mühen, einen komplizierten Künstler hinter einem komplizierten Werk zu zeigen.
In »Goodbye Christopher Robin« erleben wir A.A. Milne, genannt Blue, und seinen Sohn Christopher Robin, genannt Billy Moon, die in gemeinsamer Phantasiearbeit das Setting des weltberühmten »Winnie-the-Pooh« erschufen; den Hundertsechzig-Morgen-Wald in Anlehnung an den Ashdown Forest und seine tierischen Bewohner in Anlehnung an die Stofftiere Billy Moons. Der Film ist nicht leicht zu verdauen, denn die Idylle der Pu-Bücher und die Traurigkeit ihrer Entstehung zerren von zwei Enden am Zuschauer.
Es geht aber nicht nur um die Störung eines Idylls. Die Bücher sind Zeugnis einer intuitiven Psychologie, die A.A. Milne im Umgang mit dem eigenen Sohn gefehlt zu haben scheint. Der Wald steht für eine unberührte Kindheit, in die das Erwachsenwerden im Verlauf der Kapitel mehr und mehr hereinbricht. Das Idyll ergibt sich nicht aus der Abwesenheit von Konflikten, sondern daraus, dass sie poetisch aufgehoben sind. Die Tiere des Waldes stehen für Eigenschaften, die ein Kind temperieren lernen muss. Das ängstliche Ferkel lernt, dass Mut etwas anderes als Abwesenheit von Angst ist. I-A deutet alles, was ihm passiert, negativ; beschwert sich etwa, dass ihn keiner seiner Freunde besuche, kommt aber selbst nicht auf die Idee, sie zu besuchen. Kaninchen neigt dazu, Vorgänge an sich zu reißen. Oile genießt im Wald den Ruf der Gelehrsamkeit, zeigt sich dem Lesenden aber als Halbwisserin. An Känga und Klein Ruh lernt der kindliche Leser die Eltern-Kind-Beziehung spielerisch aufzuteilen. Tieger steht für die kindliche Wildheit, die bald, durch Entsagung, in ihre sekundäre Form, die Aufschneiderei, kippen muss. Pu schließlich, jener Bär von geringem Verstand, ist gar nicht so dumm, wie er selbst glaubt, und steht vielmehr für das poetische Gemüt des Kindes, das Dichtung unmittelbar hervorbringt wie später nur noch die Aoiden oder Freestyle-Rapper. Christopher Robin nimmt gegenüber den Tieren eine Art Mentorrolle ein. Er ist der, den man ruft, wenn es Probleme gibt. Der Griff ist nachgerade genial, weil die natürliche Identifikationsfigur des kindlichen Publikums nicht in ihrer Kindlichkeit fixiert wird. Milne erzählt weniger die Geschichte einer Kindheit als vielmehr die eines Abschieds von der Kindheit. Nur, es ist Christopher Robin, der ›Goodbye‹ sagt, wie nicht erst im allerletzten Kapital klar wird, dort aber vor allem. Das Kind erfährt Heranwachsen damit als eigene Aktivität.
Hierzu verhält sich der Film wie eine Gegenerzählung. Christopher Robin ist das Subjekt seiner Entwicklung, Billy Moon wird zum Objekt gemacht, und wir sehen die Geschichte eines Betrugs. Blue kehrt traumatisiert aus dem 1. Weltkrieg heim und müht sich vergeblich, ein pazifistisches Manifest zu schreiben. Mit seiner Frau Daphne bekommt er ein Kind, Billy, zu dem beide ein zwar liebevolles, doch meist distanziertes Verhältnis pflegen. Die wichtigste Person in Billys Lebens ist die Amme Olive, genannt Nou. Daphne setzt, indem sie nach London zurückkehrt, Blue unter Druck, endlich wieder zu publizieren. Als auch Nou aus wichtigen Gründen abreisen muss, sind Vater und Sohn allein. Die folgenden drei Wochen geraten zu einem intensiven Spiel der beiden in Haus und Wald. Wir sehen sie einige Episoden erleben, die später in den Büchern beschrieben sein werden. Die Erfindung des Spiels Pu-Stöcke etwa oder die Ballons, mit denen der Bär Honig holen will, die Verteilung der Eigenschaften auf die Stofftiere, und auch das Kapitel, in dem Pu und Ferkel ihren eigenen Spuren im Schnee folgen, passiert in der Phantasie zunächst Blue und Billy.
Schleichend wird deutlich, dass Blue dieses Spiel als Material nutzt. Für den Sohn ist es ein reines Spiel, ohne weiteren Zweck. Beiläufig hatte er seinen Vater gefragt, ob er auch mal ein Buch für ihn schreiben werde. Im Glauben, eben das zu tun, schreibt Blue ein Buch nicht für, sondern über seinen Sohn. Er macht ihn selbst zum Material, zum Objekt. Denn das ist, was Dichter tun.
Über Nacht wird Billy weltberühmt. Dadurch passiert ihm das Gegenteil seines poetischen Alter egos: Er bleibt in der Rolle des Kindes gefangen, muss entsprechende Auftritte absolvieren. Sein Ruhm beruht nicht auf eigener Leistung. Das zeugt Scham auf seiner Seite, das Gefühl, es nicht verdient zu haben. Und bei den anderen führt es zu Neid; bei seinen Mitschülern, die ihn schikanieren, ebenso wie beim eigenen Vater, der fast ausschließlich noch nach ›Christopher Robin‹ gefragt wird. Das Traumreich haben sie gemeinsam geschaffen. Blue hat dann, als Dichter, die Arbeit gemacht, Billy Moon, als Mensch, den Preis gezahlt.
Indem sie sich zueinander wie Dichter und Stoff verhalten, deutet sich das zweite große Thema des Films an: das Vermögen der Poesie, noch in der traurigsten Lage Abhilfe zu schaffen. Dem schwer traumatisierten Blue gelingt das, als er mit seinem Sohn im Wald unterwegs ist und ein Gesumm hört. Das Gesumm kennen wir aus dem ersten Kapitel des ersten Pu-Buchs. Blue erinnert sich in diesem Moment an die Fliegen auf dem Schlachtfeld, die vorher Maden in den Körpern der toten Soldaten waren. Sein Sohn erinnert ihn, dass es auch Bienen sein könnten. Blue lacht auf: ja natürlich, die Bienen, der Honig, das habe er ganz vergessen. Das Gesumm ist das Gemeinsame einer sehr hässlichen und einer sehr schönen Sache. Poesie ist, wenn aus Scheiße Bonbon wird. Am Ende des Films wird der erwachsene Billy diese Transformation wiederholen, indem er seinem Vater erzählt, dass das berühmte Pu-Gedicht einem todesängstlichen Soldaten während einer Schlacht im nunmehr 2. Weltkrieg Hoffnung gegeben habe. Es ist der Moment, indem Christopher Robin sein eigenes Los ins Verhältnis zum Schicksal seiner Mitmenschen setzt.
Ärgerlich schwach in diesem Film bleibt die Behandlung der Daphne Milne. Das vermutlich noch viel schwierigere Verhältnis Billys zu seiner Mutter wird nicht einmal ansatzweise aufgeschlüsselt; sie wirkt bei alldem sehr äußerlich. Als einzige der Hauptpersonen hat sie keinen Spitznamen; ihr Verhalten ist schwer zu durchschauen und gleichwohl platt. Möglichkeiten zur Vertiefung waren durchaus vorhanden. Sie ist es nämlich, die mit dem Stofftierspiel begonnen hat. Der Schmerz der Geburt zudem, die Sorge, den Mann und den Sohn an das Schlachtfeld zu verlieren, der Besuch im Zoo, in dem der Bär seinen Namen erhält – all das kann ihr kaltes, berechnendes, ganz auf Reputation und Geschäft gerichtetes Verhalten immer nur kurz konterkarieren. »Goodbye Christopher Robin« bleibt eine Story zwischen Männern, von der sich schwer sagen lässt, wieviel darin historisch und wieviel nachträgliche Deutung ist.
»Goodbye Christopher Robin«
Großbritannien 2017
Regie: Simon Curtis
Drehbuch: Frank Cottrell-Boyce, Simon Vaughan
Darsteller: Will Tilston, Domhnall Gleeson, Margot Robbie
Länge: 107 Minuten
Starttermin: 7. Juni 2018
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in: ND v. 7. Juni 2018.
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