Mrz 162018
 

Daniel Rapoports »Anteil des Redens an der Affenwerdung des Menschen«

Wer nach dem Thema dieses Buchs fragt, wird nicht glücklich werden. Es hat nicht keins, sondern nicht eins, es hat viele. Sechs stattliche, drei kurze Essays, und den roten Faden findet nur, wer ihn schon kennt.

Es ist die Breite und Verschiedenheit, das Überraschende und Ungewöhnliche, worin Rapoports Denken fruchtbar wird. Er denkt systemisch, hat aber kein System. Er baut vielmehr mit jedem Text ein neues. Wichtiger als eines zu haben ist ihm, eins hervorbringen zu können. Nichts anderes bezeigt das Buch, wenn es bald um das Entstehen von Ressentiments, bald um Sprache, Messfieber, Fortschritt, Kunst oder Gott geht. Das Umblättern der Seiten macht einen Wind von Friedell, Kraus, Lichtenberg, aber das ist nur Geklingel. Es ist bekannt, dass sie Rapoports Vorbilder sind, und dass sein Schreiben an sie erinnert, folglich kein Zufall. Das Wesentliche aber, der rote Faden, gehört ganz ihm.

Der Titel des Buchs bezieht sich auf den zweiten Essay: »Blöd, dass wir drüber geredet haben«. Das meint ziemlich, wonach es sich anhört. Für die gedankliche Entwicklung der Menschen sei Kommunikation in öffentlichen Zusammenhängen eher schädlich als nützlich. Insofern versteht sich das Buch nicht als Beitrag zu irgendwas, es will als Säule im Ödland genommen sein. Wer sich fragt, ob es ihm gefallen könne, sollte weniger auf die Claims der einzelnen Texte schauen als auf die sich darin durchsetzende Denkweise.

Rapoport, das erstmal, kann schreiben. Gelegentlich fehlt der letzte Schliff, und selten ist er symphonisch. Kraftvoll aber. Wie Samson, wenn er sich weigerte, einen Kamm zu benutzen. Zwischen zwei Sonderbarkeiten lauert Poesie und ungeheure Präzision. Sein Concetto sitzt, seine Metapher geht schwanger, sein sprachlicher Schickschnack verwickelt. Den Manierismen haftet nichts Gespreiztes an. Man merkt, es kommt aus der Freude am Spiel mit Worten, und selbst dort, wo es übertrieben scheint, spürt man keine Ambition. Manier ist der Grad an Stilbildung, den man als zu viel empfindet. Rapoports Manier ist Stil.

Wenn Rapoport die Wahl hat zwischen einem treffenden Gedanken und einem eigenen, entscheidet er sich immer für den eigenen. Lieber irrt er originell, als dass er einem bereits bekannten Ansatz bloß eine weitere Facette hinzufügt. Zwischen ihn und den Gegenstand passt kein Blatt, erst recht kein Blatt Sekundärliteratur. Wo andere Autoren nach jedem Einfall ängstlich prüfen, ob ihn wer vor ihnen schon hatte, schaut Rapoport vorher, was die anderen noch nicht geschrieben haben. Auf manches wäre außer ihm keiner gekommen. Man lernt also beim Lesen seiner Texte oft überhaupt erstmal, dass man ein Problem hat.

Die »Affenwerdung« ist ein Versuch, dem 21. Jahrhundert mit den Mitteln des 18. beizukommen. Verstandesdenken zeigt sich hier von der besten Seite; klar und exakt gibt es der opulenten Sprache ein Gegengewicht. Das Spekulative, das über die Analyse hinwegrollt, strenger Logik folgen oder ganz intuitiv bleiben kann, findet sich beim alles zergliedernden Autor seltener. Vielleicht könnte er, jedenfalls tut ers nicht. Es scheint besser, einen halben Weg ganz zu gehen, als einen ganzen halb.

Zugestanden, Daniel Rapoport ist einseitig, auch in seinen besten Momenten. Wenn er etwa ästhetische Urteile als blanken Ausdruck der Seelenlage fasst, während doch auf der Subjektseite (Psychologie) ebenso wie auf der Objektseite (Genre) Regelmäßigkeiten auszumachen sind. Oder wenn er Ressentiments als soziale Handlungen versteht und zugleich die Betrachtung der affektiven Wurzeln ausschließt, obschon nicht schwer wäre, beide Gedanken in eine logische Ordnung zu bringen. Man weiß dann, dass er es weiß, aber dem Fortgang und Schwung des Textes ein Opfer bringt. Diese Einseitigkeit weicht ab von der geläufigen. Sie liegt in der Entscheidung, die so luzide gemacht ist, dass dem Leser die Wahl bleibt, ihr zu folgen oder nicht. Denn mit der Frage schon breitet Rapoport den ganzen Komplex aus. Die Möglichkeit, sie anders zu beantworten, dankt der Leser überhaupt erst ihm. Ordinäre Einseitigkeit dagegen vernebelt die Frage und bringt die logischen Alternativen gar nicht erst vors Auge. Das ist die stärkste Sehne des Buchs: Es behandelt seine Leser wie erwachsene Menschen.

Nicht Meinungen sind wichtig, sondern Haltungen. Der erwähnte rote Faden, der Satz, worin sich das ganze Buch schließlich doch zusammenfassen lässt, lautet: »Es kömmt darauf an, einen Willen zum Problem zu entwickeln.« Es gibt nichts Furchtbareres als Leute, die immer schon wissen. Sie interessieren sich nur für das Ergebnis, aber ein Ergebnis ohne Rechnung ist nichts. In der Philosophie sind Kalküle das eigentlich Interessante; Hauptideen und Tendenzen sind austauschbar. Rapoport glaubt nicht an Gewissheit, aber an Erkenntnis. Weder sinkt er in die umfassende Ratlosigkeit des Skeptizismus hinab noch ins vorschnelle Dogma. Er will erkennen. Das unterscheidet ihn von den Skeptikern. Und er kann es. Das unterscheidet ihn von den Unbeirrbaren. Dabei ist er stabiler als sie, deren äußere Festigkeit nur ein Ersatz für die fehlende innere ist.

Auch deswegen erfindet er das Rad mit jedem Text neu. Er nennt das »lebenskomplexe Probleme«: Es gibt kein Handbuch für Situationen, die einzigartig sind, keine Erfahrung vor der Erfahrung, keine Erkenntnis vor der Erkenntnis. In dieser Frage sind sich der Verfasser der Einleitung zur »Phänomenologie des Geistes«, der des »Linken Radikalismus« und der Autor der »Affenwerdung« einig, und wenngleich ein jeder irrt, so gut er kann, scheint mir nicht ratsam, in einer Frage von Belang alle drei gegen sich zu haben.

Daniel H. Rapoport:
Anteil des Redens an der Affenwerdung des Menschen
Das Neue Berlin: Berlin 2017
224 Seiten

in: junge Welt v. 15. März 2018.

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