Die Revolution und die Nachgeborenen
Eine Revolution ist ein Anfang, ein Revolutionär ein Anfänger. Anfänge stinken, und das liegt nicht bloß an den Anfängern. Man begreift die Revolution besser, wenn man die Revolutionäre vor der Tür lässt. Das Ende des Anfängers Fidel Castro kann ein Anlass sein, genau das zu tun. Revolutionen passieren, und jeder weiß, warum sie passieren. Irgendwas müssen sie an sich haben, das die Nachgeborenen immer wieder zu jenen seltsam unzureichenden Urteilen veranlasst.
Die Revolution ist ein Grenzereignis. Eine bestehende Lage bricht zu einer neuen hindurch. Grenzereignisse führen auch den Verstand an Grenzen. Niemand kann mit ihnen umgehen, als seien sie gewöhnlich. Das Verhältnis des Betrachters zur Revolution zudem ist oft libidinös. Wo sie verteidigt wird ebenso wie wo man ihr vorwirft, sich selbst verraten zu haben. Revolutionen sind nicht einfach Zeitabschnitte; sie sind aufgeladen mit großen Ansprüchen. Deswegen wird der Nachgeborene ihnen nie mit der Gelassenheit begegnen, in der er die ordinäre Geschichte betrachtet, die ja kaum weniger dumm, brutal oder verräterisch ist. Die, mehr noch, durch eben diese Fehler die Revolution erst hervorruft. Unvermeidlich an der Revolution scheint demnach, dass sie mit anderen Maßstäben gemessen wird. Und so erklärbar das ist, so unerzogen bleibt es.
Im nachträglichen Umgang mit der Revolution begegnet man hauptsächlich zwei Fehlleistungen. Die erste, der externe Zugriff, handelt von Schuld, die zweite ist intern und handelt von Verrat. Wie oft bei Fehlleistungen steht am Anfang ein Gedanke, der nicht einmal ganz abwegig ist. Sowohl der Topos des Verrats als auch der der Schuld erinnern, dass es die Natur des Menschen ist, nicht bloß sachlich, sondern mit Wünschen und Absichten an den Stoff der Wirklichkeit zu treten. »Es ist ein großer Eigensinn«, schreibt Hegel, »der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist.« Wo aber der Gedanke nicht Raum und Zeit der Sache berücksichtigt, bleibt ihm nichts außer diesem Eigensinn; er wird brüsk, taub und unterbegrifflich.
In der Schuldfrage nähert der Betrachter sich dem Phänomen von außen, misst Ausführung und Schaden ab, den die Welt durch es genommen hat. Man rechnet Tote zusammen, erstellt Psychogramme revolutionärer Politiker, und wenn man tiefsinnig veranlagt ist, dringt man zur Frage der Macht vor. Das linke Ideal einer herrschaftslosen Welt – die Verhimmelung der alltäglichen Erfahrung eigener Ohnmacht – und der konservative Wunsch, dass die linke Bewegung besser machtlos bleibe, greifen hier in einem skurrilen Wettbewerb darum ineinander, ob die einen sich schneller Asche aufs Haupt streuen können als die anderen sie ihnen herbeiholen. Wie immer bei der Schuldfrage liegt die Durchsprechebene unterhalb der möglichen Erkenntnishöhe. Die Revolution wird aus ihrem Zusammenhang gerissen, die gesellschaftliche Lage, die sie hervorbrachte, ebenso ausgeblendet wie das Tätliche der Konterrevolution, die stets von der Revolution provoziert wird. Nachgeborene neigen zum Glauben, dass die Revolution bloß ein Feindbild und nicht tatsächlich auch Feinde hatte. In betreff Cubas empfiehlt sich dagegen, ruhig noch einmal Enzensbergers »Verhör von Habanna« aus dem Regal zu ziehen, worin die Konterrevolution Gelegenheit erhielt, sich mit eigenen Worten kenntlich zu machen.
In der anderen Fehlleistung, der internen, werden die Mittel der Revolution nicht als absolut falsch, sondern als falsch bezogen auf ihren Zweck verstanden. Die wirkliche Revolution sei der angedachten nicht gerecht geworden. Vorstellungen aber sind immer persönlich. Folglich scheiden sich die Kritiker, sobald es darum geht, worin der Verrat nun genau liege. Der Vorwurf des Verrats ist im genauen Sinne des Worts dort Dogmatismus – Fixierung auf einen Buchstabensozialismus, von dem der wirkliche abgewichen sei –, wo man sich allein an die Utopie klammert und nicht die gesellschaftlichen Umstände ihrer Realisierung berücksichtigt; wo mithin nicht begriffen wird, dass keine Realisierung sein kann, die nicht auch Deformation wäre.
Die Utopie ist der Treibstoff der Revolution, und Treibstoff wird verbraucht. Sinnvoll ist zu sorgen, dass weder der Motor zu tuckern aufhört noch der Tank sich je ganz leert. Utopie und Wirklichkeit müssen vermittelt werden. Wer der Utopie zuliebe von der Welt absieht, ist kaum besser als wer der Welt zuliebe die Utopie killt. Pragmatiker denken das Inkonsistente als Affirmation, indem sie die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ignorieren. Buchstabensozialisten denken dieselbe Inkonsistenz, indem sie komplementär dazu alle Widersprüche einsammeln, die die Pragmatiker haben fallen lassen. So entsteht in der kritischen Absetzung von der platten Wirklichkeit ein inkonsistentes Gegenmodell, das keiner ernsthaften Prüfung standhielte. Nicht selten werden Verrat und Schuld zusammengedacht, obgleich das ohne Widersinn nicht möglich ist. Oder man wirft ehemaligen Revolutionären saturierte Kleinbürgerlichkeit vor und fordert die Rückkehr zum Revolutionären, während man andererseits Stalinismus und Fehlen von Liberalität beklagt. Unbegriffen bleibt hier, dass Revolution als Akt autoritär sein muss und keine Möglichkeit hat, sich anders zu liberalisieren als in der Sättigung durch die irgendwann zur Ruhe kommenden Verhältnisse. Noch gut, wenn der emphatische Begriff der Revolution bloß vor- und nicht blank unterbegrifflich ist, weniger einfältig wird die Idee einer Revolution, die zugleich liberal sein könnte, auch dadurch nicht.
Was sich an der Revolution zeigt, zeigt sich auch am Revolutionär. Er muss buchstäblich perfekt sein, die Einheit sich ausschließender Eigenschaften. Voll Menschenliebe und revolutionärer Energie, unbestechlich und nachdenklich, mild und tapfer, und immer eine Portion gesunden Zweifels in der Arschtasche seiner Cargohose. So etabliert sich gegen schillernde Figuren wie Lenin und Castro jener glatte Typus des verhinderten Revolutionärs, an dem sich das Unvereinbare besser denken lässt, weil Flucht oder Vertreibung ihn daran hinderten, sich im ernsten Geschäft beweisen zu müssen. Es bleibt schwierig zu ermitteln, ob Trotzki oder Guevara – nach einem Wort Schillers (über Wallenstein) – fielen, weil sie rebellierten, oder rebellierten, weil sie fielen. Jeder Politiker strebt nach Macht, doch im Kult um ihn scheint der Revolutionär desto attraktiver zu werden, je weiter er von der Macht entfernt ist. Als Revolutionär muss er aber Eigenschaften besitzen, die ihn für die Nachgeborenen unattraktiv machen. Das zupackende Wesen der Revolution, ihre Explosivität und Grenzüberschreitung, begünstigt nicht umsichtige, sondern autoritäre Charaktere, die bei aller Bildung sehr orientiert denken, die Kontrolle dem Vertrauen vorziehen und in gewissen Fragen so gar keinen Humor haben. Die in anderen Lagen lächerlich wirkten, in diese aber gut passen.
Das Urteil der Nachgeborenen ist selten gerecht. Brechts berühmte Worte zielen genau darauf ab: »… wir, / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.« Er bittet um Einsicht, als ob auf die Urteilskraft der künftigen Menschen zu rechnen sei. Diese künftigen Menschen sind wir, und wer je auf uns baute, hat sich – offenkundig – verdammt geirrt. Es gibt kein Urteil der Geschichte, wie Fidel Castro 1953 in seiner wohl berühmtesten Rede vermutete. Es urteilen immer Menschen über Menschen, einerseits beschränkte Wesen also über andererseits beschränkte.
Was können wir dann überhaupt? Revolutionäre sind nicht freundlich. Freundlichkeit, meine ich aber, kann revolutionär sein. Wo tatsächlich keine Revolution ansteht, ist es wirklich schrecklich dumm, das Betragen des Revolutionärs nachzuahmen. Dort ist der Revolution näher, wer sich an ihrem Ziel und nicht an ihr als Methode orientiert. Wo Revolution Lebensweise wird, entfernt sie sich von der ernsthaften Handhabung des Gesellschaftlichen, die dem revolutionären Handeln gleichfalls eigen ist. Das Freundliche dagegen kann revolutionär werden, indem während der Flaute, wo weder Umwälzung noch Fortschritt absehbar ist, am Einzelleben vollzogen wird, was eigentlich die Menschheit vollziehen sollte. Doch diese Freundlichkeit kann nie universell werden. Unsere Lage ist auf andere Weise erbärmlich und eine der Not. Im Gegensatz zu Castro, Brecht und dem Zeitalter der Revolution haben wir nun wirklich gar keine Entschuldigung für Unfreundlichkeit. Freundlichkeit ist, was bleibt, wenn nichts bleibt. Wo einer für ein Ideal nicht kämpfen kann, kann er es wenigstens leben. Er sollte bloß nie glauben, das sei schon der Kampf.
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zuerst in: ND v. 21./22. Januar 2017.
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