Über den Nichtwähler und die intime Wut, die er auslöst
Kampf ist nicht gleich Krieg, Gewinnen nicht gleich Vernichten, das Durchsetzen einer Idee nicht der Versuch, sie sämtlichen Köpfen einzutrimmen. Eingestanden stellen politische Ideen Entwürfe menschlichen Zusammenlebens vor, die für alle gelten sollen. Jedes Urteil, sobald gedacht, jede Handlung, sobald begonnen, ist autoritären Charakters. Selbst das Nicht-Autoritäre muss autoritär werden, sobald es agiert. Politik wird von einigen betrieben, hat Folgen aber für alle. Meine Regierung ist nicht meine; ich habe sie nicht gewählt, dennoch regiert sie mich, und ich habe nur die Wahl, etwas dagegen zu tun oder mich gelangweilt abzuwenden. In jedem Fall spüre ich die Ideen anderer am eigenen Leib. Ich muss leben, wie eine ermittelte Mehrheit des Landes will. Menschen, die ich nicht ernstnehmen kann, entscheiden über mich. Heimatkunde, Lektion 1.
Darin kann ich resignieren, mehr Macht aber werde ich dieser Mehrheit nicht gestatten. Ich mag nicht auch von dem noch überzeugt sein müssen, wogegen ich keine Wahl habe. Schöner ist, dem Denken eigene Strukturen zu geben statt bloß innerhalb dominanter Strukturen seine Akzente zu setzen. Freiheit bedeutet zunächst die Möglichkeit, auf sublime Weise diskursunfähig zu bleiben. Politische Irrationalität beginnt, wo dieser Unterschied zwischen Politik und Denken nicht mehr gemacht wird, wo man das Unbehagen des unvollständigen Sieges fühlt, wenn der Gegner sich nicht auch geistig unterwirft.
Dass dieser Impuls nicht ausgelebt werden darf, weil Einheitsformen in Denken und Leben zu Recht als verdächtig gelten, beseitigt ihn nicht, es macht seine Äußerung bloß komplizierter. So entlädt sich belehrende Gängelei gegen das dankenswert greifbare Objekt des Nichtwählers. Im Takt wirklich jeder Wahl wiederholt die Bewusstseinsindustrie in den appellierenden Genres, den Leitartikeln, Kommentaren, offenen Briefen etc., ihre dreieinhalb Gedanken zur mangelhaften Beteiligung. Wer nicht wählt, habe schon verloren (sagt, wer zu wissen glaubt, was Nichtwähler wollen), stärke die extremen Parteien (sagt, wer endlich eine praktische Verwendung für seine Matheschwäche gefunden hat), mache von seinem Recht keinen Gebrauch (sagt, wer nicht weiß, dass die Möglichkeit der Nichtteilnahme ebenso zum Wahlrecht gehört), verhalte sich wie ein trotziges Kleinkind (sagt, wer sich in die Rolle des gestrengen Vaters träumt, bei dem gegessen wird, was auf den Tisch kommt). Im ohnedies reichlich stumpfen Frühjahr 16 erklomm ein Beitrag auf tagesschau.de den Tiefpunkt dieser adhortativen Prosa: »Nichtwähler gefährden unsere Demokratie«, hieß es da. Vier Lügen in bloß vier Worten, immerhin sportlich.
Es will mir heute nicht um die Frage gehen, ob man wählen soll. Dass ich das eigens erklären muss, ist schon Teil des Problems. Weil die Freunde des demokratischen Ablaufs jede Frage als letzte Frage stellen und nicht anders können als unentwegt Gesinnungen zu erfragen, die sie nichts angehen, wird jedes Wort gegen ihre Wut als Plädoyer fürs Nichtwählen genommen. Es geht aber um die Frage, warum sie sich lieber über Leute erregen, die nicht wählen, als über solche, die (nach ihrer Meinung) falsch wählen. Hier liegt, wie ich vermute, der intime Zusammenhang. In dem Maß der Tiegel der politischen Parteiungen heißer wird, spritzt es giftiger gegen diejenigen, die vorzogen, ihre Zutaten gar nicht erst in den Kessel zu werfen. Weder interessiert dabei der Nichtwähler als Phänomen, noch versucht man an sich selbst herauszufinden, was die Wut gegen ihn hervorbringt. In der Tat sehr verschiedene Gründe werden zugunsten einer sorgfältig geglätteten Figur radiert – aus Menschen, die nicht wählen gehen, wird: der Nichtwähler.
Nicht jedem Feindbild entspricht ein Feind. Wo Abneigung allererst Existenz stiftet, ist Bestimmen nur ein anderes Wort für Planieren. Es sind folglich nicht irgendwelche, es sind übelriechende Motive, die man am Nichtwähler aushebt: Er sei träge, inkonsequent und chronisch beleidigt. Es wird vorausgesetzt, dass er eigentlich dasselbe will wie die Wählenden, nur zu schwach ist oder sich trotzig dem Mittun verweigert. Ausgeschlossen bleiben Motive wie etwa eine Position, die im Ensemble der Parteien nicht vertreten ist, grundsätzliche Skepsis gegen die vorhandene Verkehrsform, fundamentale Opposition zum gesellschaftlichen System, das durch Wahlen nicht zu beseitigen sei. Möglich ist auch eine Haltung, die die gesellschaftliche Stellung des Intellektuellen gerade als Nichtbeteiligtbleiben versteht. Solche Gründe beruhen, wie immer man sie bewertet, auf kalkulierten Entscheidungen und sind im geläufigen Feindbild nicht erfasst.
Der klassische Griff, den Nichtwähler zu plätten, besteht im Beiholen des schwer auszuräuchernden Mythos der Politikverdrossenheit. Eine einfache Rechnung kann ihn entzaubern; der Vergleich nämlich der attischen Polisbürger mit der Kapazität des Dionysostheaters. Schon damals nahm bei weitem nicht jeder an Politik teil. Es gibt keine Unlust außer in dem Sinn, dass Politik als solche stets auch Resignation erzeugt. Es ist jedoch konvenient, das schwer zu akzeptierende Phänomen der Nichtteilnahme in einer konkret auftretenden Stimmung dingfest zu machen. Das spart die Kraft zur Überlegung, wie mit dem Phänomen umzugehen sei. Und es macht das Gerede vom selbst verantwortlichen Menschen leichter, der sich nicht so haben soll in Zeiten, die etwas schwerer sind, bzw. – und wieder hört man überforderte Eltern reden – gar nicht wisse, wie gut er es eigentlich habe.
Hier schmort unter der Rinde die innigste Überzeugung, dass der Einzelne kein Recht besitze, sich der Gemeinschaft zu entziehen. Was man juristisch zugestehen muss, will man ethisch beseitigen. Das Recht, der Wahl fern zu bleiben, wird gewährt, doch man erwartet freiwillige Unterwerfung, da man so freundlich war, auch das Gegenteil zu gestatten. Was sich umgekehrt kein Nichtwähler herausnähme, wird hier zum Prinzip. In der Tat missionieren Nichtwähler kaum; sie sind von Anbeginn in der Defensive. Dabei ließe der Spieß sich mit größerem Recht umdrehen. Wählen, ich erwähne das nicht zum ersten Mal, ist ein transitives Verb. Man geht nicht einfach wählen, man wählt etwas. Dies Etwas allein könnte rechtfertigen, dass ein Mensch sich eines schönen Sonntags in ein muffiges Wahllokal begibt, statt vernünftigerweise Beischlaf zu üben, Rosen zu züchten oder mit den Kindern Enten zu schießen.
Die Plattheit des Feindbilds ist tatsächlich ganz die eigene. Man verabscheut ja in aller Regel am Gegner, was man eigentlich an sich selbst hasst. Der sendungsbewusste Demokrat ist ein Knispel, aus dem die Belehrung nicht fließt, sondern herausbricht. Kaum je richtet sich die zyklische »Geht wählen!«-Prosa der Feuilletons an Unterschichten oder Außenseiter (die man längst aufgegeben hat), sondern meist an Intellektuelle und Eskapisten. Man empfindet die Verweigerung als Störung eines Spiels, dessen Albernheit man selbst ahnt, und die Kränkung des demokratischen Zirkus ist verständlich dort am größten, wo sie von kognitiv beholfenen Personen hervorgerufen wird. Zugleich unterstellt man, deren Beweggründe zu kennen in der stillen Prämisse, dass wir uns doch alle eigentlich einbringen wollen. Der Neid auf die Autonomie des Intellektuellen lugt aus jeder Pore, und in erwähnter Unterstellung steckt zugleich ein Zurechtstutzen derjenigen, die man selbst nicht begreifen kann. Schließlich ist es einfach praktisch, die Schuld für traurige Wahlergebnisse bei denen zu suchen, die sich nicht beteiligt haben, anstatt bei denen, die es taten. Man verdrängt die niederschmetternde Einsicht, dass kein Mensch in politischen Fragen anders als autoritär sein kann, will nicht zugeben, dass die Wut nicht der mangelhaften Beteiligung, sondern dem falschen Ergebnis gilt. Distanziert sich von der eigenen Wut über falsche Prozente, indem man sie auf die allgemeingültige, von persönlichen Belangen gelöste Ebene hievt.
Der demokratische Gedanke ist in dem Satz ›Wenn alle wählen, wird alles gut‹ vollständig erschöpft. Der ist so offenkundig falsch, dass kaum wer ihn ausspricht. Man zankt aber, als sei er wahr. Demokratie jedoch ist bloß ein politisches Verfahren, das selbst keine Richtung enthält. Sie sagt, dass passieren müsse, was die meisten wollen. Nur wo der Begriff emphatisch gebraucht wird, ist möglich, den Erfolg der AfD als Niederlage der Demokratie zu bezeichnen. So erst können diejenigen, die ihr (gleichfalls demokratisches) Recht auf Nichtteilnahme wahrnehmen, als Gefahr für jenen Prozess gedeutet werden, der doch selbst erst ermöglicht, was ihre Kritiker eigentlich stört.
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zuerst in: ND v. 24./25. September 2016.
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