Utopie und schweigende Mehrheit
Ein PS
Konstantin Bethscheider, mit dem mich etwas verbindet, das man vielleicht konzessive Freundschaft nennen kann, hat einen Home Run geschlagen. Nein, diese Metapher taugt nicht. Dass der Ball im Baseball gelegentlich aus dem Spielfeld befördert wird, ist regulärer Teil dieses Spiels. Kein Aus, sondern ein Punkt. Was hier gelang, gleicht eher einem großen Sprung von der kleinen Schanze. Wie immer das auch gehen soll. »Ein Wort für die schweigende Mehrheit«, dieser Essay, überschreitet sich selbst, indem er den vorgesehen Rahmen sprengt. Er handelt von einer sehr gegenwärtigen Stimmung, die das Spezifische unserer Zeit ausmacht – ästhetisch zunächst in noch genießbarer Form, politisch dann ganz entblößt in voller Hässlichkeit: der Geist der Marvel-Comics als Vorschein heutiger Zeloten von rechts. Also jener neueren Rechten, die von Donald Trump über die Orbáns/Petrys/Hofers bis hin zu Wladimir Putin gemeinsam einen Teppich stumpfsinniger Volksfürsorge übers Abendland legen.
Indem Konstantin fragt, was das Wesentliche dieser Bewegung ist, bleibt er noch im Rahmen der Sache. Seine Antwort aber bringt das Thema zum Platzen und die Sache gleich mit. Das ist wichtig zu betonen, da auch von hässlichen Phänomenen gilt, dass tiefsinnige Erklärungen einen Abglanz auf sie werfen. Wo eine Erklärung interessant ist, wird es irgendwie auch der Gegenstand. Selbst die hässlichste Sache leuchtet ein wenig auf, wenn sie gekonnt durchleuchtet wird. Wer die brillanten Zugriffe auf den Faschismus etwa von George L. Mosse oder Franz Neumann kennt, weiß, was ich meine. Das eigentlich bloß Stumpfsinnig-Bösartige bekommt durch die Entdeckung seiner doppelten Böden, Paradoxien und Leestellen, seiner verflixten Dynamik mithin, etwas Faszinierendes. Das ist noch nicht die Überschreitung, von der ich rede. Es ist bloß der kollaterale Effekt, den Erkenntnis hat und für den ihr Urheber nichts kann und ihr Gegenstand schon gar nicht. Sprengend ist, was dem Abhilfe schafft. Wenn in einem Text über Niederträchtiges zugleich etwas geleistet wird, das dazu beiträgt, etwas Nichtniederträchtiges zu verstehen, schmerzt die Ästhetisierung der Niedertracht, die im Akt ihres Erkanntwerdens liegt, schon etwas weniger.
In diesem Essay über Trump & Marvel ist eine Frage verborgen, die mich sehr interessiert. Ich meine, dass Konstantin sie beantwortet hat, doch bloß im Vorbeigehen, weshalb seiner Antwort das zugrunde liegende Argument fehlt. Die Frage lautet: Kann man das Trachten der Rechten, das sich zwischen dem stumpfen Hass gegen Asylanten und der ausgeprägten Vorstellung einer Volksgemeinschaft bewegt, als Utopie verstehen? Wenn Utopie die Idee einer gesellschaftlichen Lage ist, die nicht vorliegt, aber vorliegen soll, um elementare, bislang nicht gelöste Probleme in den Griff zu bekommen, dann fällt es blank technisch schwer, die Idee der Volksgemeinschaft aus dem Bereich der Utopien zu verweisen. Kann man es trotzdem? Ich meine, man kann.
Kennzeichen der neueren Rechten gegenüber der traditionellen ist, so stehts im Text, die vollständige Abwesenheit ideologischer Erwägungen. Hier tritt Gefühl unvermittelt aus den Handlungen und Äußerungen hervor. Dieses Gefühl, lesen wir weiter, ist das der Zurückgesetztheit. Die meisten politischen Strömungen, und sämtliche von der rechten Seite, stellen sich heute als Außenseiter und Minderheit dar. Man fühlt das Unbehagen an Staat und Gesellschaft, doch das Gefühl der Benachteiligung wird nicht zur Solidarität mit anderen Benachteiligten, sondern zum Willen, den anderen ihren Weg zum Glück zu erschweren. Der Asylkritiker meint, dass ihm nie einer was geschenkt hat, und versucht sodann dafür zu sorgen, dass auch keinem anderen was geschenkt werde. Diese Haltung aber ist, so der Text, das Ende jeglichen Anspruchs von Utopie.
Schon der erste Punkt, jener der Abhandenheit ideologischer Formen, scheint mir einer Weiterung wert, da er, wie ich glaube, unser Zeitalter überhaupt bezeichnet. Ich halte für ausgemacht, dass dieser Tage politische Ressentiments allzumeist bloß noch auf der affektiven Ebene gelebt werden, dort also, wo das Ressentiment herkommt und ganz bei sich ist. Der blanke, nicht durch Ideologie organsierte Affekt reicht zum einen ohne weiteres aus, das Vorgehabte zu erreichen, und zum anderen hält er das Trachten im Unklaren. Unklarheit ist wichtig, weil man durch ideologische Offenheit angesichts vergangener Systeme des Wahnsinns leichter angreifbar ist als früher. Man kann die Brüder nicht festnageln, weil sie im Grunde selbst nicht wissen, was sie eigentlich denken. So haben wir es heute zum Beispiel mit einem affektiven Rassismus zu tun, der weit entfernt von einer ausgefeilten Rassenideologie ist, oder mit einem Hass gegen die Emanzipation der Frau, der unmittelbar aus der Seele geschöpft ist, mit der klassischen Ideologie des institutionellen Patriarchats jedoch wenig Berührung hat, oder mit einem Antisemitismus, der im Moment der konkreten Israelkritik lebt und gut auch ohne die systematische Vorstellung von Weltverschwörung und Zinskritik funktioniert. Das Erscheinen solcher auf ihren Kern zurückgeworfenen Ressentiments müsste Thema einer eigenständigen Abhandlung werden. (Was den Antisemitismus betrifft, so habe ich vor ein paar Jahren schon versucht, mir genau diese Reduktion theoretisch zu Nutze zu machen.[1])
Die neuere Rechte ist also eine reine Bewegung des Gefühls, die keine zusammenhängende Theorie mit sich führt und sehr wahrscheinlich auch keiner solchen trächtig ist. Man kann, man sollte daher von einer Stimmung sprechen, und Stimmungen können immer nur in dem genau sein, wogegen sie sich richten. Wenn ich bei Konstantin nachlese, was diese Stimmung ausmacht, dann finde ich den Hinweis auf den Underdog bzw. den Status der Zweitgeborenen. Wir erblicken ein chronisches Beleidigtsein den Verhältnissen gegenüber, in denen man sich zu Unrecht ins Hintertreffen gesetzt sieht. Der dumme weiße Mann mittleren Alters hasst die Elite der nördlichen Ostküste – intellektuell, links, liberal, viel zu oft jüdisch und allesamt keine echten Männer –, er hasst, dass er auf Arbeit die Anweisungen einer Frau ausführen muss, und den schwarzen Senator aus Illinois ohnehin. Er ist der Vertreter einer Schicht, die noch vor 50 Jahren scheinbar natürliche Privilegien genoss und das gesellschaftliche Klima bestimmte. Heute sind die Vereinigten Staaten demographisch in einem Zustand, demnach die Demokraten, wenn nichts weiter hinzukommt, jede Wahl gewinnen. Die sicheren Blue States reichen an die 45% der nötigen Stimmen heran, so dass nur wenige Swing States noch für einen demokratischen Sieg vonnöten sind. Die Republikaner brauchen den Skandal, die Stimmungsmache, da sie bereits in der Ausgangslage stets im Zugzwang sind. Diese Lage ist das Resultat nicht zuletzt der langfristigen Emanzipation und Liberalisierung der amerikanischen Gesellschaft. Ohne diese Rücksicht ist das besondere Gift, das aus den Milieus der Republikanischen Partei dem liberalen Amerika entgegenspritzt, nicht erklärbar: der hysterische Rückzug von Sachfragen hin zu einer Politik der bloßen Grundsätze, anschaulich ebenso in Trump wie auch in der destruktiven Blockade der durch das Tea Party Movement beeinflussten Partei in den zurückliegenden zwei Perioden.
Hier gibt sich ein Freiheitsstreben zu verstehen, das nicht auf Gleichheit oder Gerechtigkeit zielt, sondern Vorherrschaft beansprucht, diesen Anspruch aber nur als Kampf gegen das eigene Unterdrücktsein ausgeben kann. Dass man sie heute daran hindert, ihre einstigen Vorrechte auszuüben, das ist, was sie als Unterdrückung empfinden, und daher hassen sie diejenigen, gegen die sie einmal Vorrechte hatten, ebenso wie den Staat, der die Emanzipation der Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe in die Wege geleitet hat und gesetzlich schützt. Die Vorstellung eines unabhängig vom Staat lebendigen Landes, das gegen seinen Staat geschützt werden kann und muss, ist ein Mechanismus des völkischen Denkens, der auch dann seines Charakters ist, wenn er nicht im Zusammenhang einer ausgearbeiteten Ideologie steht. Und wir kennen diese Vorstellung auch von den Rasereien des Pegidapöbels, der vermeint, Deutschland vor Deutschland schützen zu müssen. In Trump und der neueren Rechten erblicken wir also, zusammengefasst, das mindestens theoriearme, wo nicht theorielose Selbstbewusstsein einer vormals herrschenden Schicht, die ihren Verlustschmerz mit einem Freiheitsgefühl ersetzt, das sich als systematisch betrogen um seinen eigentlichen Platz in der Gesellschaft sieht und daher endlich den Tod der Utopie bedeutet.
Ich weiß nicht, wie es anderen geht, mir leuchtet das ein. Nur mein Hirn muss hier dennoch einen Umweg nehmen, da mir bei solchen Urteilen bald ein Warnlicht angeht. Misstrauisch macht mich, dass einer politischen Bewegung, der man sich in nicht milderbarer Feindschaft gegenübersieht, eine Eigenschaft abgesprochen wird, die sie formal gesehen doch haben müsste. Wenn Utopie ein alternativer Lebensvorschlag mit Hoffnung auf Besseres ist, und das, was als besser gilt, eben immer im Auge desjenigen liegt, der sich die Besserung erhofft, woher nimmt man dann das Recht, den Rechten einen utopischen Zugriff auf die Welt abzusprechen? Ist die Volksgemeinschaft nicht als Utopie denkbar? Kommt einem nicht die eigene politische Neigung ins Urteil, wo es doch streng begrifflich zugehen sollte? Spricht, dass einem übel wird, dagegen, dass es sich um den Versuch einer grundlegenden Umgestaltung des Vorhandenen handelt?
Die Antwort, ich erwähnte es, scheint mir bereits in wenig auffälliger und kaum begründeter Weise im Text gegeben zu sein. Zwischen den konstatierten Umständen des Utopieverlusts, des hysterischen Freiheitsgefühls und der Underdog-Stimmung liegt, wie ich meine, ein Zusammenhang. Alle Zeloten fühlen sich chronisch benachteiligt und chronisch im Recht. Sie wären andernfalls keine Zeloten. Es geht ihnen immer um ihre Rechte und nie um das Gesetz. Gerade das Übergeordnete des Gesetzes wird abgelehnt; sie wollen es, wo nicht abschaffen, wenigstens in ihrem (partikularen) Sinne steuern können. So trachten sie etwa, den juristischen Formalismus (die Blindheit der Justitia) durch eine Rechtsprechung des gesunden Menschenverstandes zu ersetzen, in der niemand aufgrund juristischer Winkelzüge davonkommen kann, dessen Schuld für sie auch ohne Verfahren schon feststeht. (Wir kennen das von der Art, wie insbesondere sexualstrafrechtliche Prozesse in den sozialen Netzwerken rezipiert werden, besonders anschaulich im Fall Edathy.) Sie wollen staatliche Fürsorge binden an bestimmte Vorgaben des Wohlverhaltens (Abschiebung krimineller Ausländer, wer Gastrecht missbrauche, habe Gastrecht verwirkt, Abzüge bei Hartz-IV-Empfängern, die nicht fleißig Arbeit suchen usw.). Ihr Streben ist vorsätzlich partikular und staatsfeindlich in dem Sinne, dass sie den Staat als ziviles, objektives Gebilde mit formaler Rechtsprechung und Rechtsgleichheit seiner Bürger ablehnen. In diesem Zusammenhang steht auch, dass sie sich zwar als Underdogs fühlen, dieses Gefühl aber nie zur Solidarität mit anderen Underdogs wird. Dieser Atomismus ist genuin liberal, obgleich nicht jede Spielart des Liberalismus an der Scheußlichkeit der Trumpbewegung Anteil hat. Trumpismus lässt sich als missvergnügter Liberalismus bestimmen, der sich in Lautstärke, Aggression, Willkür und Affinität zum Autoritären vom fröhlichen Liberalismus unterscheidet. Missvergnügter Liberalismus ist stets beleidigter Liberalismus. Es geht den Zeloten um ihre Freiheit, nicht um das Prinzip der Freiheit, was um so deutlicher wird, da sie nicht in der Lage sind, sich ihre Freiheit einfach zu nehmen, und also durch kollektive Handlungen etwas rückzugewinnen suchen, das sie als Individuen verloren haben. Das Destruktive wird hier selbstbewusst. Gewiss bedeutet auch das positive Erringen der Freiheit indirekt, das Geschick der anderen zu affizieren. Wenn zwei Bewerber um einen Job kämpfen, ist jede redliche Bemühung um die Stelle – gut gestaltete Bewerbungen etwa – ein existentieller Angriff auf den Konkurrenten. Im Trumpismus hingegen wird diese unvermeidliche Negativität des Kapitalismus selbstbewusst: Es geht mir schon besser, sobald es anderen bloß schlechter geht. Das gleicht dem, was Otto Kernberg als malignen Narzissmus bezeichnet hat. Wo das narzisstische Bedürfnis nicht in Erfolgen gesättigt werden kann und andererseits eine Persönlichkeitsstörung vorliegt (die verhindert, dass der Nichterfolgreiche einfach in Gelassenheit sein bescheidenes Leben genießt, und ihn von Ansprüchen zerfressen sein lässt) entsteht das Bedürfnis, das Ich durch die Abwertung des Anderen aufzuwerten.
Trumps Bewegung lässt sich also analog als maligner Liberalismus auffassen, und darin liegt zugleich, warum es unmöglich ist, hier noch von etwas wie Utopie zu reden. Ein Ideal, das gar kein Ziel mehr setzen kann, sondern allein auf die Zerstörung anderer Ziele gerichtet ist, kann kein Ideal mehr sein. Die Volksgemeinschaft stellt nicht Gerechtigkeit oder Gleichheit oder gar die Freiheit ihrer Mitglieder her, sie tilgt einen Teil der Menschen aus und ist ohne den Gedanken der Vernichtung nicht zu denken. Denn die Abwertung, der Ausstoß und die Liquidation eines Teils der Bevölkerung ist ihr Spezifikum, das sie gegenüber den anderen politischen Bewegungen der Gegenwart exklusiv hat. In diesem Sinne verstehe ich den erwähnten Tod der Utopie, der in den heutigen Bewegungen von rechts, die nur oberflächlich früheren Massenbewegungen gleichen, allgemein wird. Ein Unbehagen am gesellschaftlichen Ganzen, bei dem weder das gesellschaftliche Ganze noch das Unbehagen begriffen wird, führt hier zur Aufgabe des Anspruchs, das Ganze überhaupt noch anzugehen bzw. eine Lösung zu finden, die wenigstens zum Ziel hat, dass alle mit ihr leben könnten.
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[1] vgl. »Nahost! Nahost! oder Zur Romantik des Weltfriedens«. In: Odysseus wär zu Haus geblieben. Berlin 2015, S. 237–274. Eine frühere und kürzere Fassung ist hörbar: https://www.youtube.com/watch?v=DBVdhpKvp0E.
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