Wer gutgemachte Kinderbücher rausbringt, muss wissen, dass er Perlen vor die Ferkel wirft. Kinder sind sehr leicht zufriedenzustellen. Für sie macht es keinen Unterschied, ob es sich um Tand oder die Kronjuwelen handelt, solange das Zeug nur etwas glitzert. Die Frage, die sich damit stellt, wäre: Hat ein Künstler, der Kunst für Kinder macht, das Recht, schlecht zu sein? Darf er die Zeit von Kindern mit schlechten Melodien, lustlosen Zeichnungen oder belanglosen Geschichten totschlagen? Diese Frage nach Bewilligung und Verbot ist keine juristische. Natürlich darf der Künstler alles tun, was er für richtig hält, sofern es legal ist, und natürlich kann er es tun, sofern es sich verkauft. Hinzu kommt, dass man es nicht selten auch in betreff der Eltern mit einem unerzogenen Publikum zu tun hat. Wer noch nie ein Kinderlied von Schöne oder Lakomy gehört hat, denkt vermutlich wirklich, dass Musik für Kinder wie Zukowski klingen muss. Wer Zeichnungen von Ensikat oder Erlbruch nicht kennt, wird eher geneigt sein, Janosch oder Bofinger für gute Zeichner zu halten. Und wer Janosch für einen guten Erzähler hält, wird wahrscheinlich nie einen Blick in ein Kinderbuch von Peter Hacks, Louise Fatio, James Krüss oder Maurice Sendak geworfen haben.
Das Elternproblem, ferner, ist eigentlich nichts anderes als das Kinderproblem. Denn wer einem Kind schlechte Ware in den Kopf stopft, betrügt damit stets zwei weitere Menschen: sich selbst, indem er sich darum bringt, nicht bloß Erfolgreiches, sondern auch Gutgemachtes auf den Markt zu werfen, und den Erwachsenen, der das Kind einmal sein wird. Ein Kind ist noch nicht in der Lage, eine gute Fabel von einer brüchigen oder einen charakteristischen Zeichenstil von bloßem Geschmiere zu unterscheiden, dazu kennt es die Begebenheiten des Lebens, die Feinheiten der Gesichtsausdrücke, das Vertrackte und Widersprüchliche von Gefühlen zu wenig. Aber indem es von Beginn an mit interessanten und gekonnt ausgeführten Stoffen Bekanntschaft macht, sammelt es in sich das Erfahrungsmaterial, das es benötigt, um sich allmählich seelisch zu verfeinern. Wer nicht mit Kunst aufwächst, hat es späterhin mit ihr schwerer. Es geht ein alter Streit darum, ob die Kunst mehr vom Leben oder das Leben mehr von der Kunst abschreibe; vom Standort des sich entwickelnden Individuums ist dieser Streit zweitrangig. Kunsterfahrung ist nichts anderes als ein besonderer Modus der Lebenserfahrung.
Die Frage, was gut ist, ist in der Kunst immer schwierig. Ab einem gewissen Grad der Genauigkeit ist sie schlicht subjektiv, d.h. eine Frage von Geschmack, Temperament und Bildung. Dennoch gibt es Genres und gibt es Verfahren, die innerhalb dieser Genres ganz offenkundig besser funktionieren als andere. Es gibt, will ich sagen, trotz aller Subjektivität einen erkennbaren Unterschied zwischen Können, Mittelmaß und Stümperei.
Das Kinderbuch – das ich für das, was hier und in kommenden Folgen vorgehen soll, vom reinen Bilderbuch sowie vom umfangreicheren, spärlich oder gar nicht illustrierten Buch für selbst lesende Kinder (»Emil und die Detektive« etc.) unterscheiden möchte – ist ein Mischgenre; es lebt vom Mit- und Gegeneinander verschiedener Disziplinen. Es erzählt eine Geschichte mit Bildern und Sprache. Wir haben also: Dramaturgie, Zeichenkunst und Sprachkunst. Diesen drei Elementen möchte ich zwei weitere hinzufügen, die nicht im Werk selbst, sondern ihm gewissermaßen vorausliegen: die Bedeutsamkeit und den Einfall. Bedeutsamkeit heißt, dass die Handlung für mehr steht als bloß für sich selbst; dass sie sich auf einer Ebene von Allgemeingültigkeit wiedererzählen lässt. Die Figuren verkörpern Haltungen, Ideale oder Prinzipien, die Handlung vollzieht einen exemplarischen Prozess des einzelnen Menschen oder gesellschaftlicher Zusammenhänge, der Autor baut in seinem Buch einen Fall von Welt.
Der Einfall ist die Idee, die einer Handlung zugrunde liegt, und zugleich der entscheidende Punkt in ihr. Er lässt sich meist in ein oder zwei Sätzen mitteilen und ist das eigentliche Pfund, mit dem der Künstler auf dem Markte wuchert. Fons läuft gemeinsam mit seinem Vater durch ein und dieselbe Nacht, die dem Vater wie tote Hose, Fons hingegen wie ein Jahrmarkt vorkommt (die Zeichnungen folgen dabei Fons, der Text dem Vater). Ein Bär geht auf den Försterball und macht sich zum Anführer der Bärenjagd. Bam und Kero versuchen die Langeweile mit einem Buch zu vertreiben und erleben bei der Vorbereitung so viel, dass es des Buches gar nicht mehr bedarf. Der Tiger und der Bär machen sich auf nach Panama, wo alles besser sei, und gelangen bloß zurück nach Hause, das sie nun für Panama halten. Waschbär Wassili und Dimitri kommen nicht dazu, sich ihr Abendbrot zu angeln, weil sie ihren Freunden helfen; die Freunde überraschen sie schließlich mit einem Abendmahl. Ein Löwe verlässt ohne böse Absichten den Zoo und fragt sich, warum mit einem Mal alle Menschen, die bislang freundlich zu ihm waren, verrückt geworden sind. Max muss ohne Essen ins Bett, flieht auf eine ferne Insel, und als er nach Jahren zurückkommt, verrät das noch warme Essen im Zimmer, dass er nur geträumt hat. Dagegen hört sich etwa: Zwei Kinder helfen einem Maikäfer, das sechste Beim vom Mond zu befreien, wie ein Einfall an, ist aber eigentlich keiner. Es fehlt die Pointe, die die Handlung mitteilenswert macht. Der Einfall ist das wichtigste. Es gibt herausragende Kinderbücher, die in dieser oder jener Hinsicht Fragment geblieben sind. Es gibt keine herausragenden Kinderbücher ohne guten Einfall.
Die aufgezählten fünf Elemente sind sehr verschieden, und so wie man einen Film unter Berücksichtigung von Schnitt, Ausstattung, Musik oder Drehbuch verschieden taxieren kann, so kann ein ästhetisches Urteil über ein Kinderbuch sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welches Element die Rangmuster vorgibt. Wolf Erlbruchs Bücher z.B. sind, was Bilder und Sprache betrifft, herausragend, fallen in der erzählten Handlung allerdings deutlich ab. Julia Böhme schreibt mitunter entzückende Geschichten, aber ihre Sprache hat nichts an sich, was in Erinnerung bleibt. Das beste Kinderbuch aller Zeiten hingegen – »Die Dinge in Buta«, geschrieben von Hacks, gemalt von Hurzlmeier – genügt in jeder Hinsicht hohen Ansprüchen, ist aber gar keins.
Von den zwei Orten, an denen Demokratie nicht funktioniert, ist der eine die Kunst. (Der andere ist die Politik.) Kunstdisziplinen arbeiten nie zusammen, sondern immer gegeneinander. Man muss sie ordnen, wo sie nicht getrennt werden können. Im Kinderbuch werden Sprache und Bild von der Handlung regiert, während die Handlung vom Einfall bestimmt (und eigentlich erst dessen Ausführung) ist. Wenn man etwa Jon Klassens »I Want My Hat Back« betrachtet, so wäre alles an ihm austauschbar. Es könnte anders formuliert sein, dem Bären könnten andere Tiere begegnen, die ihm (mit Ausnahme des Hasen) anders antworten, es könnte anders gezeichnet sein. Was man von ihm nicht abziehen kann, ist seine Pointe. Die erst macht das Buch wiederkennbar. Es gibt Kinderbücher, die im Laufe ihrer Geschichte verschieden illustriert worden sind, manche wurden sprachlich den Zeiterwartungen angepasst. Andere werden adaptiert und ganz neu erzählt. Solche Änderungen sind möglich, solange die innerste Nussschale der Story nicht angetastet wird.
Doch auch wenn zwischen den Elementen des Kinderbuchs eine Art Ordnung waltet, gibt es kein Element, auf das es nicht ankommt. Wenn ich also davon spreche, dass ein Kinderbuch gut ist, dann weil das Buch es geschafft hat, durch alle meine fünf Filter zu schlüpfen. Es ist von guter Sprache, also gewählten Wortes, elegant, eigentümlich und ganz gewiss nicht kindgerecht geschrieben. Es hat Zeichnungen, die einen charakteristischen Stil aufzeigen und artifiziell genannt werden können. Es besitzt eine in sich stimmige Handlung, die logisch nachvollziehbar und dennoch überraschend ist, mit erkennbarer Motivation der Figuren, angemessenen Gegenspielern, Kollisionen, Auflösungen, Drehpunkten usw. Und es hat einen Einfall, an dem es selbst dann identifiziert werden könnte, wenn sich alle seine sonstigen Elemente anders darstellten. Macht vier Filter; der fünfte, die Bedeutsamkeit, fehlt in der organischen Anordnung, weil er im eigentlichen Sinne nicht ästhetisch ist. Wenn die Fabel in sich stimmt, ist die Arbeit der Erzählkunst getan. Ob die Fabel darüber hinaus was trägt, ist eine Frage, die das Publikum und den Künstler strenggenommen nicht zu beschäftigen brauchen. Sehr hingegen beschäftigt sie den, der das Werk analysieren und deuten möchte, der natürlich froh ist, wenn er in dem Werk, das er liebt, bedeutsame Inhalte findet. Legt man die ersten vier Filter über die Menge vorhandener (und, nunja, mir bekannter) Kinderliteratur, bleibt schon verblüffend wenig übrig. Legt man den fünften Filter darüber, der überhaupt erst möglich macht, sinnvoll über ein Kinderbuch zu schreiben, hat man guten Grund, sich sehr einsam zu fühlen. Dann bleiben Sendak, Hacks und einige andere, die gelegentlich Glück hatten.
Ich möchte in loser & offener Folge eine Handvoll Kinderbücher untersuchen, von denen ich meine, dass sich ihre nähere Betrachtung lohnt. Sie alle mussten durch den fünften Filter, und sie sollten durch die andern vier gekommen sein. Ich will nicht zanken. Von Zeichnungen verstehe ich wenig, vom Rest etwas mehr. Bei allem aber, was eine Interpretation herausfindet, ist klar, dass nicht nur der Gegenstand (das Werk), sondern auch der ihn Deutende ein Subjekt bleibt. Jedes Subjekt hat Macken. Ich rate Ihnen allerdings sehr, die meinen zu mögen. Gut möglich, dass Sie andernfalls etwas verpassen.
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