Das größte Verbrechen des Ohrwurms ist, daß er in keinem Zusammenhang zur Qualität des Songs steht, der ihn verursacht. Schlechte Melodien setzen sich ebenso fest wie gute. Der Wurm ist unberechenbar, und das stört selbst dann, wenn es nicht stört. Mein aktueller ist das Thema von »Postman Pat«. Es ist unmöglich, etwas gegen Pat zu haben, und doch merke ich nach ein paar Tagen, daß es geht. Ich hatte auch einmal zwei Wochen lang ein Livesolo von Mark Knopfler im Ohr, und obgleich Knopfler neben Mozart und Prokofjew der größte Komponist der Weltgeschichte ist, war ich für eine Weile bis zum Rand gefüllt mit Knopflerhaß.
Die Wirkung des Ohrwurms ist in der Tat der Haß auf den Urheber der Melodie. Es ist ja sehr gegen die Anschaulichkeit, eine Folge von Tönen, die zudem nicht darum gebeten hat, in die Welt gesetzt zu werden, in der Vorstellung zu teeren, zu federn und zu vierteilen. Mit Sängern oder Komponisten geht das schon eher. Sie hatten ja die Wahl, ihre Darstellung oder Komposition zu unterlassen. Ist der Urheber zudem einer, den man ohnehin nicht ausstehen kann, fällt der Haß leichter. Es kommt aber etwas Verstörendes hinzu. Musik hat die Eigenschaft, daß sie einen auch dann anspricht, wenn sie nicht gefällt. Sie wirkt auf einer Ebene, auf die das Bewußtsein keinen Zugriff hat. Und wenn ein Interpret, der ein Unhold ist, sich auf diese Art in uns einschleicht, werden wir unwirsch. Eine andere Möglichkeit ist, daß eine wirkmächtige Melodie mit einem peinlichen Text verbunden ist. Einen, den man beim besten Willen nicht ertragen kann. Und oft kommt das alles zusammen. Wenn z.B. das ekelhafte Lederriemengesülz der sogenannten Band Unheilig mit ihrer Sehnsucht nach einer auf Sentimentalität sich gründenden Gemeinschaft vermöge einer Melodie im Ohr des unbeteiligten Beobachters Halt findet, nimmt dieser Beobachter ja nicht bloß übel, daß er immer wieder dieselbe Melodie in sich klingen hört, sondern ihn nervt überdies, daß er auf die Art mit einem ihm aus guten Gründen verabscheuten Gehalt in Berührung kommt.
Im Sommer wurde es unmöglich, dem Song »Auf uns« zu entgehen. Einer namens Andreas Bourani hatte ihn gedichtet, und die ARD ihn zum Leitmotiv ihrer WM-Sendungen gemacht. »Auf uns« könnte besser, weil kürzer, mit den Worten »Toll! Toll! BRD!« zusammengefaßt werden, und es fehlt wirklich kein Klischee zeitgenössisch-deutscher Befindlichkeit. Von der schweren Vergangenheit über die Gemeinschaft, in der jeder für jeden durchs Feuer geht, bis zum Glück der Gegenwart (das bei Fukuyama noch »Ende der Geschichte« hieß). Wer Fußball sehen wollte, hatte irgendwann diesen Dreck im Ohr, und ich bemerkte, wie ich über das schickliche Maß hinaus ungehalten wurde.
Vielleicht ist das ja schon das ganze Geheimnis jenes beißenden Spotts, der gewissen Künstlern, die eigentlich bloß harmlose Idioten sind, immer und immer wieder zuteil wird. Man nimmt ihnen übel, daß sie, die man längst durchschaut und als inferior abgehakt hat, einen vermittels ihrer mal besseren, meist schlechteren Melodien doch irgendwie kriegen. Der ewig säuselnde Barde Naidoo war schon lange, bevor er sich als neurechter Kotzbrocken zu erkennen gab, ein Haßobjekt der gehobenen Gesellschaft. Wir alle haben wohl irgendwann erlebt, daß einer dieser christianischen Erweckungssongs in uns was zum Klingen brachte. Das ist ein hinreichender Grund, nicht zu verzeihen.
zuerst in: Jungle World 1/2015.
One Response to “Kalter Scheiß: Ohrwürmer”
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