Über die Gereiztheit des Zoophagen
Die wörtliche Übersetzung von Dioskuren lautet: die Boys von Zeus. M&M wiederum heißt nicht, wie es müsste, Maxeiner & Maxzweier, sondern Maxeiner & Miersch. Der autoritäre Liberalismus ist noch jung und gerade erst dabei, seine Folklore zu entwickeln. Ich bin mir sicher, dass man dereinst, wie heute schon in den MEW, in den MMW blättern wird, und irgendwann im Nachlass mag wohl ein fleißiger Adlatus das unveröffentlichte Vorwort zu einem veröffentlichten Buch entdecken, worin Maxeiner über Miersch oder Miersch über Maxeiner schreibt: »Er war das Genie, wir anderen allenfalls Talente.«
Ich kann mir wirklich nicht merken, wer wer ist, obgleich sie gelegentlich sogar ohne einander publizieren. Für ihre Meisterwerke aber bündeln sie ihren Elan, und wo andere Köpfe beim Sich-Arrangieren mit dem kartesischen Gegensatz von Kraft und Ausdehnung zu kämpfen hätten, geht bei ihnen, die das eine wie das andere nicht haben, alles glatt.
Ein vor einigen Wochen erschienenes Werk (in Die Welt v. 16. Oktober) trägt den Titel »Fleisch darf man bald nur noch heimlich essen« und liest sich wie alle M&M-Kolumnen in einer Minute durch. Sieben Absätze, 343 Wörter, 2441 Zeichen. Dafür kann man sich schon mal einen Nachmittag zusammensetzen. Und da hysterisches Geraune frei von Faktizität sein darf, wird es wohl auch nicht allzu spät geworden sein. Zum Abendessen gab es dann Ente Shanghai vom Chinesen an der Ecke, mit viel Glutamat – nur um die Bionade trinkenden taz-Leser von gegenüber zu ärgern. Leitwölfe der Empörungskultur sind nicht zimperlich, sie gehen dorthin, wo es wehtut, und zahlen selbst mit der eigenen Gesundheit, wenn sie etwas beweisen wollen. Der Beweis ist immer derselbe: Wer heute die Mehrheit vertritt, ist eigentlich in der Minderheit. Tapfer und auf verlorenen Posten harren die Gründer der Achse des Guten aus gegen die Übermacht des Islam, der Deutschlandhasser, des linken Meinungsterrors, der Gutmenschen, Nichtraucher, Umweltschützer, Sozialhilfeempfänger und des überall drohenden Kommunismus. Man sieht, manchmal ist die gefühlte Minderheit sogar eine echte; manchmal, aber nicht oft. Diesmal war eine Minderheit namens Vegetarier an der Reihe, und natürlich ist auch diese Minderheit bei M&M die eigentliche Mehrheit.
Beschrieben wird eine Tischgesellschaft im Umfeld der Buchmesse. Oder auch nicht. Eigentlich beschreiben M&M gar nicht, was passiert, es geht mehr um ihre Gedanken, während es passiert. Eine Dame bestellt eine vegetarische Pizza, eine andere einen Salat oder – uns stockt der Atem – etwas Gemüse. Darf man, fragen sich M&M, jetzt wirklich ein Schnitzel bestellen, oder wird man es sich mit den Damen verscherzen? Sie beklagen sich auch, dass sie nur B-Promis sind, die im Gegensatz zu echten Schriftstellern nicht einfach bestellen dürfen, was sie wollen. Niemand am Tisch sagt ein Wort gegen den Verzehr von Fleisch. M&M fühlen sich dennoch bedroht. Dass die Bedrohung unbestimmt ist, steigert die Angst eher noch: »Der Geruch gebratenen oder gegrillten Fleisches wird mittlerweile als mindestens so störend empfunden wie das Rauchen.« Kopfkino des Paranoikers.
Das Ende des Textes ist dann possenhaftseinsollend in der Art einer übertriebenen Sittenkarikatur. Wir sehen Herren mittleren Alters – ausnahmslos B-Prominente und Verlagsangestellte – verstohlen um eine Rostbratwurst anstehen. M&M haben es drauf. Zuerst breiten sie ihre Hysterie aus, dann malen sie eine skurrile Szene, damit auch der letzte begreift, wie sehr sie das alles doch eigentlich mit Humor nehmen.
Das Herzstück dieses trotz aller Kürze noch zu lang geratenen Bekenntnistextes könnte als Lehrbeispiel projektiver Identifikation dienen. Der Satz: »Ich bin zwar Vegetarierin, aber nicht dogmatisch« wird von M, M oder M&M so kommentiert: »Das heißt auf gut Deutsch: ›Du bist zwar eine tierquälerische und ignorante Null, aber für den Rest des Abends werde ich mich trotzdem mit Dir unterhalten, weil ich nicht nur Vegetarierin, sondern auch vorbildlich tolerant bin.‹« In der Vorstellungswelt eines Journalisten, der die so abgegriffene wie bezeichnende Phrase »auf gut Deutsch« verwendet, braucht jemand, der sich entschieden hat, kein Fleisch mehr zu essen, nicht als Sittenwächter aufzutreten, um ein Sittenwächter zu sein. Durch seine Entscheidung schon, vegetarisch zu leben, ruft er bei den Autoren das schlechte Gewissen hervor, das mit dem Verzehr von Fleisch unvermeidlich verbunden ist und verdrängt werden muss, wenn es den Genuss nicht beeinträchtigen soll.
Offenbar ist der Vegetarianismus die einzige Spielart des Irrationalen, die weniger verrückt ist als die Gegenbewegung, die von ihr hervorgerufen wird. Das hat den einfachen Grund, dass bereits im kulturell Normalen, dem Verzehr von Fleisch, ein körperliches Bedürfnis mit der menschlichen Neigung zum Mitleid kollidiert. Fleischessen erzeugt schlechtes Gewissen, und das muss verdrängt werden. Vegetarier sind die fleischgewordene Erinnerung an die Unmenschlichkeit des Zoophagen, der Stachel im Fleisch des als organisch verstandenen Vorgangs Essen, in den natürlich längst sittliche Elemente eingedrungen sind. In jeglichem Spott über die vegetarische Lebensweise (»mein Essen isst dein Essen«; »ich esse nur, was ein Gesicht hat«; »wenn ihr nicht aufhört, mir auf die Nerven zu gehen, esse ich euch auf«, »ich bin Veganer der Stufe 5: ich esse nichts, was einen Schatten wirft« etc.) delektiert sich das Normale an seiner Abgeklärtheit, die tatsächlich verklärte Hysterie ist.
Der Punkt, um den sich alles verwickelt, ist, dass die Vegetarier eigentlich recht haben. Der Fall jedoch, in dem sie recht haben, ist nicht wichtig genug. Das Bedürfnis nach Genuss wiegt schwerer als die Neigung zum Mitleid, die ja beim Menschen nicht haltmacht, sondern sich auch auf Tiere (mindestens Säugetiere) bezieht. Es ist nicht falsch, dem Vergnügen nachzugeben; es ist nur falsch, die Bedeutung dieses Akts zu ignorieren. Es ist verständlich, dass die arbeitsteilige Gesellschaft einige wenige aus ihrer Mitte abgeordnet hat, das Töten von Tieren zu übernehmen. Die Spezialisten fürs Schlachten und Jagen nehmen die notwendigen unmenschlichen und notwendig unmenschlichen Tätigkeiten auf sich, damit der Rest der Menschheit sich unter Ausschluss der Spezialisten erhaben machen kann.
Es bringt nichts, an diesem Verhältnis herumzuschrauben. Es ist widersprüchlich, für alle Beteiligten unbehaglich und dennoch der einzig mögliche Weg zwischen einer umfassenden animalischen Barbarei und dem Ersticken an einem Übermaß von Gesittung. Es spricht also nichts gegen den Verzehr von Fleisch oder die folgende Verdrängung. Unangenehm wird es erst, wo die eigene Unsicherheit auf eine andere Person übertragen wird und Intoleranz sich als Streit für die Toleranz ausgibt. Dazu bedarf es einer zweiten Verschiebung, der erwähnten Verwandlung der Mehrheit in eine Minderheit.
Zum Handwerkszeug des Empörers gehört unabdingbar die Behauptung, er kämpfe gegen einen übermächtigen Mainstream. Und das hat seine Ordnung im Unordentlichen. Wer nichts zu sagen hat, sagt es als Rebell. Die erste und letzte Entschuldigung, die das Substanzlose sich gibt, dennoch erscheinen zu dürfen, ist die, dass in ihm eine politische Pflicht erfüllt sei: »Was gesagt werden muss«, »Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit«, »Hier stehe ich und kann nicht anders«. Grass, Hessel, Luther. Die Diobskuren des Wutbürgertums. Jeder wählt die Tradition, in deren Linie er sich am wohlsten fühlt. M&M haben gewählt.
Das Verhältnis zur Wirklichkeit bleibt gespannt. Wie bei Ulf Poschardt, der am Anfang des Jahres, auch in der Welt, anlässlich einiger mehr oder weniger guter Witze über den Skiunfall Michael Schumachers äußerte, in Deutschland herrsche von jeher eine große Feindschaft gegen die Autokultur und die Lust an der Geschwindigkeit. M&M wiederum phantasieren, dass einem bald nur noch die Wahl zwischen vegetarisch & vegan bleibe. Immerhin gewährt, wie mir scheint, während ich, das schreibend, auf meinem Rib Eye Steak kaue, die Wahl zwischen vegetarisch & vegan ein breiteres Feld an Möglichkeiten als die Wahl zwischen M & M.
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zuerst in: ND v. 6./7. Dezember 2014.
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