Die Debatte um Markus Lanz, die mich schon (hier & hier) beschäftigt hat, ist ziemlich schnell zur Übersprungshandlung geraten. Es gab eine Chance, an ihr Bedeutendes abzuhandeln. Man hätte reden können über den vom Moderator zur Schau gestellten aggressiven Konformismus, der – wie weiland, als man die vaterländische Frage noch offen stellte – Sahra Wagenknecht ein Bekenntnis zu Europa abverlangte. Eine Auskunft ungefähr so sinnvoll wie: Ich bekenne mich zum Winter; und ganz offenkundig getragen von einer edel-simplen Auffassung des abendländischen Kulturerbes, das doch in Wahrheit äußerst widersprüchlich ist. Zu prüfen wäre folglich, ob wir die Installation eines neuen Tabus erleben, in dem jeder, der die EU nicht mit Haut und Haaren hinunterzuschlucken bereit ist, gleich als Feind Europas, als nationaler Separatist angesehen wird. Man hätte indes auch reden können über die Substanz der EU-Kritik. Also etwa über den Sinn und die Folgen des Protektionismus für nichteuropäische Länder, über die Rolle der wirtschaftlich starken EU-Länder (Deutschland, Niederlande v.a.) gegenüber den schwächeren Mitgliedsstaaten, über Lobbyismus und bürokratische Aufblähung in Brüssel, über den ökonomisch nicht lösbaren, permanent Krisen zeugenden Widerspruch zwischen einer einheitlichen Währung und separat geführten Staatshaushalten. Das alles ist gewiß ein großer Komplex, den man nur im Zusammenhang abhandeln kann; die Umleitung der Debatte war somit auch weniger das Dilemma des Esels zwischen den Heuhaufen. Vielmehr schien das Vieh mitten in den Haufen gefallen zu sein, um sich, aller Sinne durch Heu beraubt, Gedanken über die Beschaffenheit des Scheunentors zu machen. Und so kam die Rede auf von einem Shitstorm, der nie stattgefunden hat, und einer »digitalen Meute«, die nicht einmal ein Schatten dessen war, was man im Fall von Guttenberg, Wulff, Sarrazin und anderen geschundenen Opfern bzw. Helden des Volkszorns erlebt hatte.
Natürlich gibt es so etwas wie eine digitale Meute, und ich will nicht verbergen, wer das ist: ennuyierende, überbezahlte, profilsüchtige Journalisten, die anläßlich einer harmlosen Online-Petition bereits von digitaler Meute reden. Jörg Thadeusz, Alexander Kühn, Hajo Schumacher, Uli Jörges, Antje Hildebrandt, Josef Joffe usw. usw. Sie, die allzumeist sozial- oder christdemokratisch ticken, haben sich über Lanz geärgert, weil er der guten Sache auf schlechte Weise gedient hat. Weil er dabei versagt hat, die unbequeme & vaterlandslose Opposition zu delegitimieren, weil es ihm bei aller Schmierigkeit in der Fragetechnik nicht gelungen ist, linke und rechte Kritik an der EU als identisch hinzustellen. Weil er daran gescheitert ist, Sahra Wagenknecht schlecht aussehen zu lassen. Und weil jeder gesehen hat, daß ein Fall von Linienjournalismus vorlag, der sich nicht eben glaubhaft als kritischer Journalismus gerierte.
Dieser Ärger ist da, er muß raus. Und so ist es ein Glück, daß es den »Mob« gibt, der es wagt, ein weder rechtlich noch sonstwie zwingendes Ersuchen an das ZDF zu schicken, in dem die Absetzung des Moderators Lanz gefordert wird. Dieser Mob ist der Mob des Web 2.0. Diese Journalisten sind der Mob des Web 1.0. Ich unterscheide also der Einfachheit halber zwischen Mob 1.0 (Betriebsnudeln) und Mob 2.0 (Publikum).
Was nur dräuet mehr? Die Herrschaft des Pöbels oder die Herrschaft der Clans, die Demokratie oder die Oligarchie? Mob 2.0 und Mob 1.0 verhalten sich zueinander wie willkürliches und organisiertes Chaos. Wie Anarchie und Feudalismus. Oder, um ein letztes trauriges Bild zu finden, wie die Freiheit des Marktes und der Neoliberalismus. Ein identisches Anliegen, das zwei Wege kennt, sich durchzusetzen, und zwei Wege, die einander wenig nehmen. Für den Mob 2.0, den ich zugegeben auch schon einmal vermöbelt habe, spricht immerhin, daß er bloß dumm ist. Gefährlich ist er in aller Regel nicht. Ein Vorzug, dessen ich mir beim Mob 1.0 nicht so sicher bin.
Was hinwieder die Dummheit betrifft, so lehrt die Erfahrung, daß die Ergebnisse sich ausgleichen. Mal ist der eine, mal der andere Mob etwas dümmer, und oft stehen sie beide auf derselben Seite. Ich habe zwischen professionellen Journalisten und den Heerscharen des Comment Age auch nach langer Zeit der Beobachtung keine erheblichen und konstanten Unterschiede im Niveau des Denkens, dem sprachlichen Ausdruck oder dem Benehmen entdecken können. Die Schar des Mob 2.0 ist natürlich sehr viel größer, aber sie strukturiert sich zu mehr oder weniger gleichen Teilen in Trolle, Langweiler, Irre & Genies.
Im Fall von Lanz ist, wie der Zufall will, der Mob 1.0 der dümmere von beiden. Dümmer deswegen, weil er sich, den Mob 2.0 kritisierend, ernstlich sublim glaubt, weil er denkt, er sei schon dadurch kein Mob mehr, daß er dem konkurrierenden Mob aus grundsätzlichen Erwägungen über den Mund fährt. Dümmer auch, weil er die psychologische Motivation, unter der er leidet und die zumindest im Aufbegehren gegen Lanz keine Rolle zu spielen scheint, ausklammert.
Nämlich den Drang nach Distinktion. Auffallen durch ein besonderes Profil ist alles in einem aufgeblähten, gleichförmigen und durch die ebenfalls schreibende Klasse des Web 2.0 bedrohten Corps von professionellen Wortproduzenten. Voraussetzung für diesen Vorgang ist die glaubwürdig erzeugte Behauptung, die eigene Meinung sei in der Minderheit. Wenn man weder sprachlich noch gedanklich noch durch Witz oder Kenntnisse heraussticht, bleibt einem immer noch die Pose des einsamen Wolfs, des allein nachdenklichen Mahners, des Tabubrechers oder des gelassenen Ironikers, der sich gegen den Mainstream ein letztes Stückchen Unabhängigkeit bewahrt hat. Schafft man es, diese Pose zu konservieren, braucht man nicht mehr recht zu haben. Es reicht hin, daß man der einzige ist.
Nur gibt es zu öffentlichen Diskursen vom Logischen her kaum je mehr als zwei oder drei mögliche Standpunkte, wodurch das seltsame Phänomen eintritt, daß eine Mehrheit von Meinungsjournalisten im Gestus der ausgesuchtesten Einzelheit denselben Unrat zusammenschreibt. Zur Zeit wimmelt der journalistische Zirkus so sehr von einsamen Leuten, die den Mut hatten, gegen die Lanz verachtende Mehrheit anzuschreiben, daß man diese Mehrheit mit der Lupe suchen muß.
Das Verhältnis ist so alt wie die Geschichtsschreibung, und die Lösung ist es auch. Die Verfassungsdebatte bei Herodot ist klar entschieden: Demokratie und Oligarchie unterliegen; Dareios setzt sich mit seiner Idee einer monarchischen Konstitution durch. Was politisch heute nicht mehr durchsetzbar scheint, ist es im Geistigen nach wie vor. Wer sich theoretisch einigermaßen ernstnehmen möchte, muß das Entweder-Oder zwischen Demokratie und Oligarchie, zwischen dem Gleichheitsfimmel der kleinen Leute und dem Freiheitsfimmel der starken ausschlagen. Gedanklich voran kommt nur, wer sich weder dem Diktat des Publikums noch dem des Medienbetriebs unterwirft. Freilich gewinnt man mit dieser Haltung keine Schönheitswettbewerbe, weil der Dritte Weg alle vorhandenen Strebungen gleichermaßen brüskiert. Das Publikum spaltet sich in zwei große Lager, die für Weiteres wenig Raum lassen: in eines, das seine Gewöhnlichkeit fühlt und diese deswegen zum Maßstab erhoben wissen will (das ordinäre Publikum), und in ein anderes, das ebenso gewöhnlich ist, sich aber aus demselben Grund an einer vermeintlichen Aristokratie orientiert (das denaturierte Publikum).
Das berechnet, wird auch erklärbar, warum Markus Lanz so unbeliebt ist. Warum das Publikum lagerübergreifend eine diebische Freude hat, ihn scheitern zu sehen, sei es bei »Wetten daß« oder bei dem Versuch, in Politik zu machen. Lanz will beide Lager bedienen, will Gottschalk und Christiansen, Volks- und Hofdichter sein, und ganz abgesehen davon, daß das schon daran scheitert, daß er kein Dichter ist, zerreißt er das Publikum, indem er es zusammenzubringen sucht. Derselbe Riß geht denn auch durch ihn hindurch. Arglos-schlichter Konformismus und Traum der Schwiegermütter auf der einen Seite, besserwisserischer Aggressivtalker gegen jedes Mauerblümchen, das den schönen glatten Bau seiner Stadtanlangen stört, auf der anderen. Seine Wurzel liegt natürlich im Volkstümlichen, er kommt aus der Unterhaltung, wo man ihn, wäre er wie Gottschalk dort geblieben, noch immer schätzte. Aber Lanz ist ein Opfer seiner Ambitionen. Immer wieder treibt es ihn zu beweisen, daß er mehr kann als schnattern. Und wie immer, wenn ein Bedürfnis sich nicht aus vorhandenem Talent ergibt, sondern von außen her kommt, fehlt das nötige Geschick, das richtige Maß. Ein Unpolitischer, der einen Politischen darstellt, weiß nicht, wo er anfangen und erst recht nicht, wo er aufhören soll. Deswegen schwankt Lanz immer wieder zwischen politischer Aggression und unverbindlicher Gefälligkeit. Wer geneigt ist, ihn für den verlorenen Drilling der Diobskuren Guido Westerwelle und Jakob Augstein zu halten, wird hierin eine Antwort finden.
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