In jeder Familie gibt es eine Tante, die die Feiern mit sich und ihrem hysterischen Narzißmus vollmacht. Sie verteilt staubige Kekse und dünkt sich darob als Wohltäterin, obwohl keiner die essen will und Zuneigung als Gegengabe verlangt ist. Sie hält sich, gleichsam emotionaler Scheitelpunkt und moralischer Taktgeber, für das Herzstück der Sippe und will unablässig alle in bierzeltselige Eintracht miteinander bringen, ohne zu bemerken, daß sie selbst die triftigste Ursache für den sich fortsetzenden Unfrieden ist. Wir alle haben so eine Tante; sie heißt Martha, Gertrud oder Günter. Wir alle haben diese Tante; sie heißt SPD.
Ich habe nie verstanden, warum die Psychologie zur Beschreibung jenes von keinerlei Reflexion getrübten Reinheitskomplexes, in dem ein menschliches Subjekt seine Makellosigkeit phantasiert und alle Fehler von sich wegschiebt, auf das mythische Bild eines Jünglings zurückgriff, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt ist. Nichts tut der Narziß weniger gern als in den Spiegel zu sehen. Er hat ja längst ein Bild von sich, und was er sähe, könnte diesem Bilde nie gerecht werden. Das hemmungsloseste Ich erkennt man daran, daß es kaum je an sich, sondern zwanghaft an andere denkt und in der Spiegelung von deren Fehlern seine absolut gemeinte Makellosigkeit als eine relative konstruiert. Der Narziß ist nicht in der Lage, sich seiner Vorzüge wegen zu lieben; vor allem deswegen, weil er nur wenige besitzt. Schönheit ist für ihn nicht die Anwesenheit des Schönen, sondern die Abwesenheit des Häßlichen, und folglich wird er seine Vorzüge immer nur negativ zu bestimmen in der Lage sein. Das Gefühl des eigenen Minderwerts ist notwendige Voraussetzung dafür, daß einer nicht in der Lage ist, zu einer Sache zu halten, die ihm nicht makellos scheint.
Als Sigmar Gabriel letzthin die Welt mit folgender Meinung bekanntmachte:
»Es gibt nichts, wofür sich die SPD in ihrer 150-jährigen Geschichte schämen muß«,
schrieben sich die Witze praktisch von selbst. Dazu mußte man gar nicht auf Gabriels Nazi-Vater zurückgreifen, über den der Sohn sich persönlich zerknirscht zeigte, während die Partei, der er vorsteht, einer Truppe namens Fatah bis heute dabei behilflich ist, Papas Werk fortzusetzen. Es reicht vollkommen, auf das zu schauen, was die SPD ganz ohne fremde Hilfe und aus eigenem Antrieb verbrochen hat. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten etwa (1914), das Abwürgen der Novemberrevolution (über die Sebastian Haffner zu Recht sagt, sie sei genuin sozialdemokratisch gewesen), das (von Waldemar Pabst bezeugte) Betreiben des Mords an Liebknecht und Luxemburg durch Ebert und Noske, die Unterstützung des Präsidenten Hindenburg (1932), die schlagkräftige Eskortierung des Schahs von Persien (1967), der Radikalenerlaß (1972), die Kriegslügen und der tausendfache Mord an Bewohnern Jugoslawiens (1999) und Afghanistans (2001ff.), die Liquidierung des Sozialstaats (2003ff.).
Da er sich nicht schämen will, ist es gut, daß es seit einigen Jahren das Fremdschämen gibt. Einer schließlich muß den Job machen. Was die SPD angerichtet hat, kann sie nicht mehr gutmachen; also befindet sie sich der Welt gegenüber in einer Art dauerhafter Schamschuld. Ihre sofortige Auflösung wäre ein Anfang. Bis dahin ist das Fremdschämen eine Aushilfe. So, wie man alten Damen, die nicht mehr recht gehen können, über die Straße hilft, nimmt man einem verkümmerten Ego, das außerstande ist, Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen, die Schamarbeit ab. Was einen dazu treibt, ist die widersprüchliche Haltung, einerseits sich selbst in die erbärmlichsten Mitmenschen noch irgendwie hineinversetzen zu können und mit ihnen zu fühlen, stellvertretend also unter dem zu leiden, woran sie leiden, andererseits aber das peinliche Empfinden, derselben Gattung anzugehören. Man schämt sich also für sie und für sie.
Ob zwischen den Gedächtnislücken der SPD und ihrer weltanschaulichen Leere ein Zusammenhang besteht? Die Leere muß erklärt werden. Auffällig nämlich ist, daß die Sozialdemokratie keine Theoretiker hat. Sagen Sie jetzt bitte nicht: Bernstein, Plechanow oder Mehring. Dieser rettete sich, sobald er konnte, vor ihr, und jene kamen noch so sehr aus der klassischen Schule, daß sich selbst mit Vorsatz die einmal gewonnene Substanz nur schwer abbauen ließ, was ihre Abtragearbeit um so imposanter macht. Jede politische Richtung hat Köpfe, hat eine mehr oder weniger systematisch grundierte Weltanschauung. Sogar die Nazis, sogar die Grünen. Warum die Sozialdemokratie nicht?
Die Sozialdemokratie ist die sterile Regression von dort, wo einmal eine Theorie war. Sie zerstörte mit der Utopie das einzig Lebendige an ihr und will das Zerstörte hernach nicht mehr kennen. Die Rücknahme von etwas, das nicht bloß liquidiert werden, sondern nie gewesen sein soll, macht das hysterische Verhältnis dieser Partei zu sich selbst aus. Deswegen reagiert sie so giftig auf alles, das sie daran erinnert, was sie einmal war. Deswegen kann sie politisch, geistig oder ästhetisch nichts von Bestand hervorbringen. Deswegen, so mein Vorschlag an die Welt, wären Sozialdemokraten viel besser getroffen, bezeichnete man sich fürder als Dezimalsoziokraten.
Das heißt freilich nicht, daß die Sozialdemokratie keine Theorie hätte. Die existiert, man hat sie bislang nur immer an der falschen Stelle gesucht. In einem mordsmäßig schlecht geschrieben Kinderbuch namens „Teddy Brumm“ (Leipzig 1957) wurde ich fündig. Die Geschichte ist eine Odyssee-Fabel, die mit einer Treue gebastelt ist, daß der alles überschauende Wladimir Propp sicher zu Tränen gerührt wäre: Der Teddy hat Krach mit seinem Besitzer, zieht in die weite Welt und kehrt gereinigt und bereichert zurück. Auf seinem Weg trifft er auf eine Bande von Braunbären, die ihm Müßiggang, Lügen und Diebstahl beibringen. Teddy lernt den Bärentanz, und der geht so:
Brummtari und Brummtara
hoch das Bein und hopsassa
eins und zwei und brummelbrumm
links und rechts im Kreis herum.
In die lange Reihe sozialdemokratischer Ruchlosigkeiten gehört gewiß nicht zuletzt die Finte, daß dieses genuine Dogma jedweder Sozialdemokratie in keinem ihrer acht bisherigen Programme enthalten ist.
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