Als der Zensus bei mir klingelte, hatte ich ein Problem. Einfach reinlassen konnte ich ihn nicht, dafür müßte ich mich noch vor meinen Enkeln schämen. Am Zensus teilgenommen zu haben ist etwa ebenso peinlich wie ein Auftritt bei RTL2 oder ein Sitz auf der Anklagebank des IMG zu Nürnberg. Man versucht sowas zu vermeiden, denn es hängt einem lange nach. Ich konnte allerdings auch nicht Widerstand leisten, weil die etatistische Universaltheologie, der ich bekanntlich anhänge, das nicht gestattet. Keine Sorge, Sie werden nicht erfahren, wie ich mich entschieden habe. – An meinen Problemen will ich Sie teilhaben lassen, nicht an meinen Lösungen.
Nichts ist schwerer, als heute Etatist zu sein. Dauernd muß man den Leuten erklären, wie man es schafft, zwar für den Staat als solchen zu sein, aber dennoch – wie es der Anstand erfordert – gegen diesen. Ich helfe mir meist damit, daß die Bundesrepublik nicht wirklich ein Staat ist, so wie es ja auch Musik gibt, die man besser nicht Musik nennt. Einen Staat nenne ich eine gemeinschaftliche Organisation von Menschen zum Zweck der gerechten Verteilung von Reichtum, zivilen Rechten und politischen Möglichkeiten sowie zum Zweck der allgemeinen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Sie sehen hieraus, daß die Bundesrepublik – die Tyrannis der praktizierten Ungerechtigkeit, der partikularen Interessen und gesellschaftlichen Unordnung – kein Staat ist. Oder jedenfalls kein guter. Doch mit diesem Gedanken kommt man beim Zensus nicht weit; man sollte einen Staat, der seine Aufgaben nicht erledigt, nicht ausgerechnet dort kritisieren, wo er es dann doch einmal tut.
Wirklich, ich bin kein Wutbürger. Ich verabscheue Datenschützer und wechsle die Straßenseite, wenn ich einem Bürgerrechtler begegne. Ich bin, zugegeben, durch Erfahrung verwundet. Ich habe Vera Lengsfeld und Petra Kelly reden hören; es gibt wenig, was schlimmer ist. Das Kennzeichen dieser ewig unzufriedenen Gemüter ist, daß sie ihre eigene Unzulänglichkeit mit der Unzulänglichkeit der Verhältnisse, in denen sie leben, chronisch verwechseln; sie glauben, daß Kritiküben eine Art Menschenrecht sei und daß man dieses Recht am besten dadurch würdigt, daß man keinen Gedanken zwischen Gemütslage und Gemütsäußerung geraten läßt. Obwohl sie überhaupt nichts besitzen, was zu verteidigen lohnt, sind sie unablässig in Verteidigungsstellung. Aus dieser Stimmung heraus wüten sie. Sie schaffen Staaten ab, protestieren gegen unterirdische Bahnhöfe und lassen ihre Häuser bei Google unkenntlich machen.
Als Die Grünen noch nicht die Partei desjenigen Teils der Oberschicht waren, der sich in seiner Freizeit ein Gewissen leistet, sammelte sich das Wutbürgertum vornehmlich dort. Der andere Teil der Oberschicht, der selbst in seiner Freizeit mit einem Gewissen nichts anzufangen wußte, sammelte sich von jeher in der FDP, wo er ursprünglich mit dem Teil, der ein Gewissen hat, vereint war. Das war vor der Völkerwanderung. Als der gute Teil der Oberschicht sich bei den Grünen breitmachte, zogen die Bürgerrechtler weiter. Und sie fanden die Piratenpartei. Warum dieser ulkige Verein so heißt, läßt sich erklären. Die Anhänger der Piraten sind Leute, deren Gehalt nicht ausreicht, gleich FDP zu wählen. In der Gesinnung sind sie so liberal wie die Grünen und die Gelben und pflegen wie die eine Feindschaft gegen jede Form des eingerichteten Lebens: gegen Staat, Regeln und Gesetz. Weil sie das Gesetz nicht schiert, reden sie um so häufiger von ihren Rechten. Wie überhaupt der Glaube an die Gerechtigkeit dem Glauben an die eigenen Rechte ganz und gar entgegengesetzt ist. Vor noch kaum mehr als zwei Jahrhunderten war Europa bis zum Rand bevölkert mit jenen merkwürdigen Gestalten, die als die Väter des Liberalismus gelten müßten: Raubritter, Warlords, romantische Freiherren, Burschenschaftler und – nunja – Piraten. Sie soffen, fochten, vergewaltigten Frauen und wetterten gegen den modernen Beamtenstaat, der in den Städten entstanden war. Die Stände sind heute verschwunden, aber die Leute, die sich zu dergleichen eignen, müssen ja noch irgendwo sein. Geben Sie einem Raubritter einen Laptop und ein Buch von Milton Friedman – er wird umgehend eine Partei mit einer gelben Flagge gründen, Lohn- und Steuersenkungen sowie natürlich den Rückzug des Staates aus allen Lebensbereichen fordern. Geben Sie ihm ein paar Gehirnwindungen weniger, ein unstetes Gemüt und ein Buch von JJ Rousseau, und Sie werden einen Gründer der Piratenpartei erhalten. Es ist so einfach. Derselbe Haß in zwei Formen.
Die Bürgerrechtler stehen für den gemütlichen Liberalismus, der nichts von dem Elend wissen will, das er anrichtet. So schaffen sie es, zugleich für und gegen die Wirksamkeit von Gesetzen zu sein. Mal soll das Gesetz festgefrorene Gewohnheit sein, mal gegen Gewohnheit wirken. Wies eben paßt. Geht es zum Beispiel ums Urheberrecht, soll das Gesetz der Sachlage, daß heute ein jeder alles kopieren und ins Netz stellen kann, angepaßt werden. Geht es um die Nutzung von persönlichen Daten, soll das Gesetz der nämlichen Sachlage, daß Personendaten längst zentral erfaßt sind und genutzt werden können, entgegenwirken. Wenn ein Blog-Autor ein geschütztes Photo nicht online stellen darf, beschränkt das die Pressefreiheit; wenn Google das Photo eines wutbürgerlichen Hauses, das jeder x-beliebige Passant festhalten und veröffentlichen kann, online stellt, ist das wiederum eine Verletzung der Privatsphäre.
Wirklich, es ist so einfach. Wenn Dinge lächerlich wirken, liegt das manchmal daran, daß sie lächerlich sind. Was aber stört am Zensus? Immerhin steht er für alles, was Bürgerrechtler abscheulich finden. Kann er da schlecht sein? Man muß sich abgrenzen. Ich bin nicht gegen Volkszählungen, ich will nur nicht dran teilnehmen. Ich bin nicht wütend, ich fühle mich nur belästigt. Nämlich – und das das trennt mich von den Liberalen – aus Gründen.
Ich weiß wenigstens zwei, die nicht zu entkräften sind, einen logischen und einen logistischen. Den letzten zuerst. Wer sich den Fragebogen des Zensus ansieht, wird vor allem darüber erstaunt sein, was das Amt für Statistik alles nicht wissen will. Auf dem Bogen findet sich kaum eine Frage, deren Antwort der Staat nicht ohne weiteres herausfinden könnte. Einwohnermeldeamt, Standesamt, Bürgeramt, Finanzamt, Arbeitsamt usw. besitzen Daten, die darüber Auskunft geben, wieviele Menschen hierzulande verheiratet, Studenten, selbstständig usw. sind. Die Kirchen geben die Zahl ihrer Mitglieder jährlich heraus. Praktisch jede Information ist nachprüfbar, ohne daß eine kostenreiche Umfrage in Gang gebracht werden müßte. Können Sie einen Staat ernstnehmen, der bei seinen Bürgern eine große Menge von Informationen erfragt, die er längst weiß?
Noch mehr wundere ich mich aus logischen Gründen. Die Volkszählung wird nicht etwa bei allen Bürgern des Landes durchgeführt, sondern bei 10% der Gesamtmenge. Einmal angenommen, ich hätte die Sorgen des Statistischen Amts, käme mir doch wenigstens folgendes in den Sinn: Wenn ich eine Erhebung bei einem Teil der Bevölkerung durchführen will, muß dieser Teil doch zumindest repräsentativ sein. Daß er repräsentativ ist, kann ich allerdings nur wissen, wenn ich verläßliche demographische Daten habe, also genau das, was ich durch meine Erhebung zu finden hoffe. Es könnte ja passieren, daß sich unter meinen Befragten übermäßig viele Menschen unter 25 befinden, so daß ich im Resultat erhalte, daß Dreiviertel der Deutschen als Schüler oder Studenten ihr Leben verbringen. Der Zensus also soll zu Erkenntnissen führen, zu denen er nur dann gelangen könnte, wenn diese Erkenntnisse bereits bekannt sind. Können Sie einen Staat, der eine Umfrage durchführt, die nur dann …
Ich auch nicht.
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