Jul 282009
 

I. Einleitung

Die Versuchung, »Die Gräfin Pappel«[1] autobiographisch zu lesen, ist groß. Wenn ihr im folgenden widerstanden werden soll, dann nicht schlechthin, sondern in einer bestimmten Hinsicht. Die »Gräfin Pappel« ist kein Schlüsselroman, sie ist, was mehr ist, ein Märchen. Zwar: Sie wurde 1992, also in der letzten Lebensphase ihres Verfassers gedichtet, und die Lebensgeschichte ihres Helden weist in der Tat zu viele Parallelen zur Lebensgeschichte ihres Verfassers auf, als daß man das Autobiographische bei einer Deutung außer acht lassen könnte: Wie Philibert hat Peter Hacks in jungen Jahren die Welt, in der er aufwuchs, verlassen, wie diesem wurde ihm die Welt, in die er fortging, zerstört, wie dieser weigerte er sich, nach der Zerstörung seiner Wahlheimat in der neuen, d.h. in der alten Welt anzukommen. Die Fabel, könnte man meinen, bildet eins zu eins die Biographie des Dichters Peter Hacks ab. Und auch in den Einzelheiten findet sich eine durchaus nicht geringe Anzahl von Figuren oder dargestellten Sachverhalten, die offenkundig konkret-biographische Deutungen heischen. All das soll, wo es berechtigt ist und nicht zu sehr ins Einzeln-Unbedeutende ausläuft, in der vorliegenden Interpretation nicht gemieden werden. Dennoch unterscheidet sich die »Gräfin Pappel« etwa vom »Ekbal«, worin im Grunde jeder Figur eine und nur eine Person des wirklichen Lebens zugeordnet werden kann, so daß man diesen recht eigentlich erst dann lesen kann, wenn man einen Katalog von Namen und zugehörigen Bedeutungen beiliegen hat und die Geschichte auf der Ebene, auf der sie eigentlich zusammengehalten wird, der Bedeutungsebene, versteht. Die »Gräfin Pappel« entzieht sich einem solchen Versuch. Bereits die Aufschlüsselung der Titelheldin ist nicht durchführbar, wenn man diese Figur als Verkörperung einer konkreten Person auffaßt. Gleiches gilt, bei den Hauptfiguren zu bleiben, für Philiberts Liebschaften und in gewisser Hinsicht auch für Eostro. Die Erzählung strebt, gemäß ihrer poetischen Natur, nach Höherem und gleicht insofern eher dem »Schuhu«. Anders als dieser aber scheint sie kein Weltentwurf zu sein, sondern auch nach Einberechnung ihrer höheren Bedeutungen bleibt sie im wesentlichen die Lebensgeschichte einer Person. Wenn in ihr Welt abgehandelt wird, dann im Vorbeigehen. Am meisten gleicht sie daher dem »Magister Knauerhase«, worin sich ebenfalls eine Welt abbildet, ohne daß die Entfaltung dieses Weltbildes gleich der Hauptzweck der Erzählung sei. Der Ansatz der »Gräfin Pappel« aber ist unverkennbar autobiographisch, und das ist bei Peter Hacks in der Tat ein Unikum. Läßt sich auch kaum ein größeres Werk finden, in dem der Dichter nicht Autobiographisches verarbeitet hat, so scheint doch zutreffend zu sein, was er gegenüber André Müller äußert: „Es gibt zwei Arten zu schreiben, die einen, wie wir, fangen ganz objektiv mit der Welt an und stellen hinterher fest, daß sie sich selber auch eingebracht haben; die anderen, wie Goethe, fangen ganz persönlich an und stellen fest, daß sie die Welt am Ende auch drin haben.“[2] Wenn man dieser Auskunft über die eigene Dichtung vertraut, dann wäre die »Gräfin Pappel« die Ausnahme von dieser Regel, denn in ihr hat Peter Hacks unverkennbar den zweiten Weg gewählt.

Aus all dem ergeben sich Bestreben und Verfahren der vorliegenden Interpretation fast von selbst: Sie soll sich weder darin bescheiden, einen Wer-ist-Wer-Katalog zu erarbeiten, noch darin, im Unverbindlich-Allgemeinen zu bleiben. Der Interpret soll keine Angst zeigen, zwei und zwei zusammenzählen, wenn es darum geht, das Weltbild, das in der Erzählung zum Ausdruck kommt, herauszuarbeiten, und dennoch soll er sich nicht scheuen, auf Wissen zurückzugreifen, das er aus anderen Zusammenhängen über das Weltbild des Dichters besitzt. Es soll demnach versucht werden, die in der »Gräfin Pappel« beschriebenen Vorgänge als historische, die dort beschriebenen Verhältnisse als gesellschaftliche und politische, ihre Personen als soziale Gruppen oder gesellschaftliche Triebkräfte zu deuten und dem Geist, der in all dem stecken möchte, auf die Spur zu kommen, mit einem Wort, die beschriebene Welt als Sinnbild der wirklichen Welt zu nehmen. Zugleich soll die vorliegende Interpretation auch ein kleiner Beitrag sein, den späten Hacks und sein politisches Weltbild zu verstehen, ein Feld, auf dem, nach den bisherigen Veröffentlichungen zu urteilen, eher das Urteil als die Forschung regiert.

Die Hauptfrage einer jeden Interpretation von Dichtung lautet: Was steht drin? Der Zweck, dem zuliebe in einer Interpretation Zitate des Dichters, die aus seinen anderen Werken oder Schriften stammen, verwendet werden, sollte daher stets in der Beantwortung dieser Frage liegen, und die Gedanken, die in einer Interpretation verhandelt werden, sollten aus demselben Grunde nicht daraufhin untersucht werden, ob sie richtig oder falsch sind, sondern darauf, inwieweit sie den Inhalt des zur Interpretation vorliegenden Werks ausmachen. Die erfolgreichste Interpretation wird die sein, in der der Interpret sich freiwillig in die Gedankenbahnen des Dichters und seines Werks begibt, denn diese herauszustellen, ist die einzige Pflicht, die er hat und von der er in desto größerem Maße abgelenkt wird, je mehr er sich in seiner Arbeit mit anderen Fragen beschäftigt. Was er herausfindet, gilt. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sich die Deutung der Erzählung in diesem, seinem Ergebnis erschöpfen muß, und es wäre vielmehr höchst verdächtig, wenn der Interpret seine Lesart als alleinseligmachende präsentierte. Nicht andere Lesarten auszuschließen sollte sein Ziel sein, sondern die eigene zu stärken. Je schlüssiger diese ist und je mehr Elemente des Werks der Interpret ihr zuführen kann, desto weniger angreifbar wird sie sein. Eine Interpretation macht Vorschläge und widerlegt nicht. Sie muß nicht zwingend sein, sondern plausibel, nicht notwendig wahr, aber möglich.[3]

II. Die Erzählung: Perspektive, Fabel, Bau

Die erzählten Ereignisse begeben sich auf zwei Ebenen. Die Handlung der ersten Ebene ereignet sich im Salamandermeer und zeigt das Zusammentreffen eines Schiffskaptiäns, Allan Gagelbusch, mit einem einsam auf einer Planke treibenden Mann, Philibert. Dieser erzählt jenem seine Lebensgeschichte, die die zweite Erzählebene bildet. Den zwei Ebenen gemäß vermittelt der Autor die Fabel in zwei verschiedenen Erzählperspektiven: Die erste Ebene wird durch einen auktorialen Erzähler zur Anschauung gebracht. Auf der zweiten Ebene – obgleich in ihr der Erzähler nicht wechselt und dem Leser also die Lebensgeschichte nicht durch Philibert selbst, sondern durch ein und denselben Erzähler vermittelt wird – bedient sich der Autor, dem begrenzten Wissensstand seines Helden entsprechend, der personalen Perspektive. Der Leser weiß also, wenn die Erzählung nach dem Abschluß des Lebensberichts zum Finale wieder auf die erste Ebene wechselt, nicht mehr als Philibert selbst.

Was er weiß, ist: Philibert, ein junger Adliger und Baumschulist, flieht vor den Nachstellungen der Gräfin Pappel, die die Besitzerin eines benachbarten Pappelwaldes ist, aus dem Waldreich Ur in das Reich des Sturmkönigs Eostro. Er hatte ihr, sie zufällig treffend, das Leben gerettet und war dabei selbst in Lebensgefahr geraten, aus der er vom Sohn eines seiner Waldhüter gebracht werden mußte. Die Pappel ihrerseits hatte aus dieser Verbindlichkeit das Recht abgeleitet, Philibert zu ehelichen, was diesen, da er erkennen mußte, daß ihm von seiten des Königs keine nennenswerte Unterstützung gegen dieses Anliegen der Pappel zuteil werden würde, zum Entschluß geführt hatte, Ur zu verlassen. Zunächst verschlägt es ihn bei dieser Flucht auf eine Insel, die von Riesen aus dem Wasser gehoben wurde. Philibert begibt sich dort als Baumpflanzer in den Dienst des Riesenkönigs und verliebt sich in die Riesin Tiny. Das Schicksal nimmt eine Wendung, als der Riesenkönig von einer Felsklippe fällt und stirbt. Ein Unfall scheint ausgeschlossen, aber es bleibt auch unklar, wer ihn ermordet haben könnte. Der Hofzwerg Otto, der mangels Gewicht außer Mordverdacht ist, übernimmt die Regierungsgeschäfte, zeigt sich jedoch des Regierens unfähig, aus welchem Grund die Insel untergeht. Kurz nach dem Tod des Riesenkönigs war die Gräfin Pappel auf der Insel aufgetaucht, und nun, da die Insel untergegangen ist, versucht sie, Philiberts habhaft zu werden. Eostro rettet ihn jedoch vor der Gräfin, indem er ihn in die Wüste Mondo bringt, worin Philibert die Oase Schönschein vorfindet. Dort gibt er sich dem Gedanken und dem Empfinden des Schönen hin. Mit den zwei Hälften einer am Rumpf geteilten Dame steht er in einem Liebesverhältnis. Eines Nachts verübt eine Gestalt auf die obere Hälfte der Dame einen Mordanschlag, der zwar, mangels Anwesenheit der unteren Hälfte, scheitert, dessen Hintergründe allerdings nicht aufgeklärt werden. Unter den Bewohnern der Oase befinden sich indes dreie, die eine ansteckende Krankheit haben und deshalb von den anderen gemieden werden. Eines Tages tauchen die drei in Begleitung der Gräfin Pappel in der Öffentlichkeit auf. Philibert flieht aus der Oase, bevor die Bewohner derselben einer Epidemie zum Opfer fallen, deren Quelle jene drei kranken Bewohner sind. Er erreicht nach einem Wüstenmarsch den Berg Teltow, woselbst er sich in einer Siedlung von mürrischen Rübenbauern niederläßt. Dort lebt auch ein gelehrter Klausner mit seiner Tochter. Philibert assistiert ihm bei seiner gelehrten Arbeit und verliebt sich in die Tochter, mit der er bald ein Verhältnis hat. Vater und Tochter werden jedoch eines unglücklichen Tages von einer seit längerer Zeit abgestorbenen Pappel erschlagen. Philibert bleibt trotz des Unglücks am Berg Teltow, aber ein Luftangriff von Pappelsamen vernichtet die Rübenkultur. Eostro, der lange nicht in Erscheinung getreten war, taucht mit einem Mal auf, um die Lage zu retten, meint allerdings die Unbesiegbarkeit der Gräfin Pappel zu erkennen und gibt den Kampf auf.

Damit endet Philiberts Lebensbeschreibung. Man erfährt nichts über seinen weiteren Weg; indessen weiß man, daß er nunmehr, offenbar immer noch auf der Flucht, sich im Salamandermeer befindet, wo ihn Allan Gagelbusch gefunden hat. Dieser hatte sich recht bald als jener Sohn eines seiner Waldhüter zu erkennen gegeben, jener nämlich, der ihm einst das Leben gerettet hatte, und kann ihm nun helfen, bezüglich der Ereignisse seines Lebens einige Unklarheiten zu beseitigen, die ihm trotz aller Überlegungen geblieben sind. Gagelbusch bestätigt Philiberts Verdacht, daß es die Gräfin Pappel war, die den Mordanschlag auf seine Geliebte in der Oase Schönschein verübt hat. Die Ermordungen des Riesenkönigs, des Klausners und seiner Tochter erweist sich aber als Werk Eostros, des scheinbaren Feindes der Gräfin Pappel. Ihm und somit ihr haben auch die geheimen Helfer gedient, die den Ereignissen die tragischen Wendungen beschert haben: der Hofzwerg Otto und die drei kranken Bewohner der Oase Schönschein. Schließlich gibt sich Gagelbusch selbst als Diener Eostros und also der Gräfin Pappel zu erkennen. Philibert entzieht sich jedoch der Verhaftung, indem er die Hilfe eines Salamanders annimmt, dessen Mitleid er durch seine Geschichte erregt hatte.

Die Erzählung ist unverkennbar konstruiert. Sie hebt an auf der ersten Ebene, wo der Held vorgestellt und die Erzählung seines Lebens, also die zweite Ebene, vorbereitet wird. Die Erzählung der Lebensgeschichte wird mehrmals durch den Fortgang der Handlung auf der ersten Ebene unterbrochen. Diese Unterbrechungen erhöhen durchaus die Möglichkeiten zum Vergleich: Philiberts, wie er war und wurde, mit Philibert, wie er geworden ist. Das Ende der gesamten Erzählung bildet sodann die Zusammenführung der in Philiberts Lebensbericht dargestellten Vorgeschichte mit der Situation, die auf der ersten Erzählebene herrscht. Es kommt zwischen Gagelbusch und Philibert zu dem für das Ende von dramatischen Handlungen typischen Angleich der Wissensstände, allerdings dergestalt, daß, wie es eher für die epische Form typisch ist, auch der Wissensstand des Lesers erst im Finale auf das höchstmögliche Niveau gehoben wird. Die Struktur der Erzählung stellt sich demnach wie folgt dar:

[I] Der Mann auf der Planke

[1] Das einhörnige Schwein; [2] Im Waldreich Ur; [3] Der Heizer des Königs; [4] Das eingefordert Verlöbnis; [5] Die Flucht aus dem Vaterlande

[II] Der Mann auf der Planke, Fortgang: Einladung auf die Fregatte

[1] Die Rieseninsel; [2] Der Muschelturm; [3] Tiny, die Kraftmaid; [4] Äußere Einmischung; [5] Eine sittliche Liebe

[6] Gezänk der Geister über den Wassern

[III] Der Mann auf der Planke, weiterer Fortgang: Die Gegeneinladung

[1] Die Oase Schönschein; [2] Der Menschenfreund mit dem Enterhaken; [3] Die Halbjungfrau; [4] Neues vom Ripper; [5] Die ewigen Drei

[6] Durch die Wüste

[7] Berg Teltow; [8] Die Tochter des Backwoodsman; [9] Die tote Pappel; [10] Der Samenkrieg; [11] Das Teltower Rübensterben

[IV] Der Mann auf der Planke, Aufschlüsse und Schluß: Die Festnahme

Sowohl die Begebenheiten, die zu Philiberts Flucht aus Ur führen [I.1-5] als auch jeder der Aufenthalte in den drei Welten, die die Stationen seiner Flucht bilden: die Rieseninsel [II.1-5], die Oase Schönschein [III.1-5] und der Berg Teltow [III.7-11] werden in je fünf Kapiteln erzählt. Interessant sind in betreff der Konstruktion besonders die Vorgänge auf der Rieseninsel, der Oase Schönschein und dem Berg Teltow. Sie folgen im großen und ganzen einem Muster. Es ließe sich eine Geschichte erzählen, die wir in allen drei Vorgängen wiederfänden: Philibert betritt eine neue Welt. In dieser Welt herrschen eine bestimmte Tätigkeit und eine damit verbundene Lebensweise vor. Philibert nimmt mit der Zeit im Rahmen seiner Fähigkeiten und Vorlieben an dieser Tätigkeit teil und nähert sich auf diese Weise, soweit sein Charakter es zuläßt, der in dieser Welt üblichen Lebensweise. Er verliebt sich in eine Frau, deren Naturell dem Naturell der Welt, in der sie lebt, entspricht.[4] Auf diese Weise geht Philibert sowohl öffentlich als auch privat eine Verbindung mit der neuen Welt ein; er findet weltliches und persönliches Glück. Nach einer Zeit geht die neue Welt unter, und Philibert verliert seine Liebe. Er muß wieder flüchten. Auffallend ist hierbei eine Klimax bezüglich der politischen Ereignisse. Auf der Rieseninsel geht der Untergang mit dem Auftauchen der Gräfin Pappel einher. Mit dem Untergang der Insel verschwindet auch Tiny, die weibliche Konkurrenz der Pappel. In der Oase holt die Pappel selbst die Verursacher des Untergangs ans Tageslicht und begeht einen mißglückten Mordanschlag auf Philiberts dortige Liebschaft. Am Berg Teltow gelingt der Mordanschlag auf die weibliche Konkurrenz und es ist die Pappel höchstpersönlich, die durch ihren Samenflug Philiberts neue Heimat vernichtet.

Wir sehen also, daß die Erzählung, obwohl sie äußerlich einem Reiseroman gleicht, streng komponiert ist. Das ist in diesem Genre alles andere als üblich. Die Regel ist vielmehr, daß Epiker die Form des Reiseromans wählen aus der Verlegenheit, keine Fabel zu haben, in der das, was sie zu sagen hätten, auch in der Gestalt zum Ausdruck kommt. Das kann daran liegen, daß sie ihr Weltbild nicht in eine Form zu bringen imstande sind, aber auch daran, daß sie kein wirkliches Weltbild besitzen, sondern ihr Geist sich eher als ein Konglomerat unzähliger Weltbildchen erweist. Die Form des Reiseromans gibt ihnen die Gelegenheit, jene Vielzahl von Einzelheiten in der Geschichte unterzubringen, die offenkundig das ausmachen, was sie zu sagen haben. Daß Peter Hacks uns nicht nur Einzelnes mitzuteilen hat, aber auch, warum er uns scheinbar dreimal dasselbe mitteilt, soll im folgenden Stück für Stück erschlossen werden.

III. Die Weltlage

  1. Die geteilte Welt

Die in der »Gräfin Pappel« beschriebene Welt ist gespalten, in das Reich Ur und das Reich des Eostro (144). Der junge, aus Ur stammende Philibert flieht vor der Gräfin Pappel in das Reich des Eostro, wo er als Stationen einer sich fortsetzenden Flucht drei Länder besucht. Die Pappel folgt ihm in jedes dieser Länder. Ihr Erscheinen ist stets begleitet vom Untergang derselben. Am Ende ist das Reich des Eostro untergegangen, und der Pappel ist es gelungen, die gesamte Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Philibert ist wieder dort, von wo er einmal floh. Man kennt die Welt, man kennt Hacks. Keine Frage, scheint’s, was wofür steht: das Reich des Eostro für die sozialistische Welthälfte, das Reich Ur für die imperialistische.[5]

Wo Dichtung im Spiel ist, verdient die Etymologie ihren Namen; die Gegenstände der Dichtung tragen die ihren eher selten zufällig. Die zwei Reiche in der Welt der »Gräfin Pappel« heißen Ur und Eostro. Der Name Ur steht für Ursprüngliches und Altes. Denn ur ist nicht nur ein deutsche Vorsilbe, die auf Altes und Ursprüngliches verweist, sondern zugleich auch der Name einer der ältesten Städte der überlieferten Weltgeschichte: der sumerischen Stadt Ur. Das Königreich Ur hätte demnach nicht allein zu stehen für die Gesellschaftsausprägung, der Peter Hacks entlaufen ist, sondern für die alte Welt überhaupt, d.h. für die lange Tradition der verschiedenen Formen von Klassengesellschaft.[6] Auf der anderen Seite das Reich Eostros. Man kennt die griechische Eôs, die Morgenröte. Wir merken uns: rot und Morgen. Morgen ist, wo die Sonne aufgeht, und die Sonne geht im Osten auf. Die Himmelsrichtung Osten, bekannt aus verschiedenen indogermanischen Sprachen (east, est, восток usf.), klingt nicht zufällig gleich, sondern hat denselben sprachlichen Ursprung. So kommt Eostro in der Erzählung denn auch „aus dem innersten Osten“ (157). Er ist ferner der „Sturmkönig“ (144), also die Bewegung, die Veränderung; das Neue also, das aus dem Osten kommt.

Die Teilung der Welt ist zweifach: politisch und geistig. Ersteres kommt zum Ausdruck beim Staatstreffen zwischen Eostro und dem König von Ur (144f., 147f.). Auftreten der Monarch der neuen Welt und der der alten: „Das Machtverhältnis zwischen den Herrschern war einfach. Dem Eostro gehörte die eine Hälfte der Erde, dem König von Ur die andere“ (144). Beide befinden sich miteinander im Zustand einer Art kalten Krieges: „Insgeheim … glaubten beide, die Erde gehöre ihnen ganz. Sie sprachen es nicht aus, aber sie fühlten so. Und aus dieser Lage der wahrscheinlichen Verwicklung und vorauszusehenden Feindschaft entsprang die Notwendigkeit regelmäßiger Treffen, deren ungestörter Ablauf augenscheinlich zu machen hatte, daß die Fugen der Welt heil waren und ihre Gewichte im Gleichgewicht“ (ebd.). Die Tatsache, daß der Dichter vorzieht, langweilige Beschreibungen der unterschiedlichen Beschaffenheit beider Reiche zu umgehen, erschwert, von einem Kampf der Systeme zu sprechen, und dennoch handelt es sich, wie im Laufe der Erzählung immer deutlicher wird, um den Kampf zweier Reiche, in denen sehr verschiedene, einander ausschließende Lebensweisen die Gepflogenheiten ausmachen. Was aber bereits in der Szene des Staatstreffens, allein durch die Beschreibung des äußerlichen Verhältnisses beider Reiche deutlich wird, das ist die nur mühsam verborgene Unversöhnlichkeit zwischen ihnen. Beide Staaten streben unvermeidlich danach, den Erdball vollends zu umfassen, und auch hier liegen im Text Hinweise, die kaum mißdeutet werden können. So heißt es über Eostro, er habe „in den Wäldern von Ur schon große Beschädigungen und Umbrüche angerichtet“ (ebd.). Die Umbrüche – ein anderes Wort für Umwälzungen – legen die Vermutung nahe, daß es vielleicht um mehr geht als nur darum, sich in der Konkurrenz zum anderen Reich durchzusetzen, daß es also darum geht, die Welt nach seiner Weise umzugestalten, und so wird man wohl, das zusammengetragen, kaum übersehen können, daß seitens des Dichters die genaue Absicht vorliegt, die Weltlage, wie er sie zu seinen Lebzeiten kennen gelernt hat, das Verhältnis der sozialistischen Welthälfte zur anderen Hälfte der Welt, in der die älteren Lebens- und Erzeugungsweisen vorherrschten, abzubilden.

Die Entzweiung der Welt ist aber auch geistig. Wir erleben das eigens dargestellt und ausdrücklich benannt im „Gezänk der Geister über den Wassern“ (157f.). Dort streiten miteinander: der Sturmkönig Eostro und die Gräfin Pappel. Ohne bereits hier hinsichtlich der Frage, wofür sie stehe, vorzugreifen, darf man die Gräfin Pappel, insofern die Pappel eine Baumart ist, als Repräsentantin Urs, des „Waldreich(s)“ (144), gelten lassen. Ein erneuter Blick auf die Etymologie ist allerdings erhellend. Eostro, wollten wir uns oben merken, enthält neben dem Morgen auch die Bedeutung: rot. Die Gräfin Pappel wiederum heißt mit vollem Namen: Alba Gräfin Pappel (143, 145). Populus alba bezeichnet in der Botanik die Silberpappel; das lateinische Adjektiv albus bedeutet: weiß. In Eostro und Alba kämpfen also Rot und Weiß gegeneinander. Vielleicht nicht ganz zufällig schreibt der Dichter beim Gezänk der Geister denn auch: „Auf der Seite der Pappel färbte sich das Himmelsgewölbe blendend weiß. Eostros Seite leuchtete granatapfelkernrot“ (157). Rot und weiß waren 1918 die Farben von Revolution und Gegenrevolution im Russischen Bürgerkrieg. In der Erzählung geht es zwischen Baum und Wind „um keine kleinere Frage … als um den Gegensatz von Stillstand und Bewegung“, es ist ein unversöhnlicher Kampf, und wir sehen „die Welt in ihrer Entzweiung“ (ebd.). Die Zuweisung der Begriffe Stillstand und Bewegung ist selbstverständlich nicht in dem Sinne zu verstehen, daß in Ur keinerlei Veränderung vor sich ginge. Allein schon die Expansion der Pappelwälder und die Zunahme des politischen Einflusses der Gräfin, die im Laufe der Erzählung sich deutlich abzeichnen, zeugen wider diese Annahme. Wenn in Ur nicht der Wind, sondern der Baum, also nicht die Bewegung, sondern der Stillstand herrscht, dann kann das in der Interpretation nicht auf die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern muß auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse bzw. der gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen bezogen werden. Es geht dem Dichter an dieser Stelle also nicht um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der ja in betreff der westlichen Industriegesellschaft nicht nur eine Tatsache, sondern regelrecht eine Voraussetzung ist. Vielmehr geht es ihm um den Fortschritt in der Gesittung, den Hacks bekanntlich im Sozialismus gegenüber dem Imperialismus gegeben sah.[7] In Eostro und der Pappel treten sich allerdings nicht die Reiche oder Systeme selbst gegenüber, also kein Konflikt in politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Form, sondern vielmehr ihre Prinzipien. Der Kampf ist ideell; daran läßt der Dichter keinen Zweifel: „Sie nahmen die Gestalt von Welttatsachen an und zeigten sich als das, was sie waren: die Großmächte des Geisterreichs, die Fürstlichkeiten unter den Verallgemeinerungen“ (157).

  1. Verhältnisse in Ur

Peter Hacks hat die imperialistische Welthälfte 1955 in Richtung der sozialistischen verlassen. Wenn Philibert es ihm gleichtut und aus Ur fliehend das Reich Eostro betritt, stellt sich die Frage, ob Ur einfach für den westlichen Imperialismus steht, wie das Reich Eostro für den östlichen Sozialismus genommen werden kann. Ersteres, so wurde oben vermutet und soll sich auch bald zeigen, ist nur bedingt der Fall.

Zunächst ist klar: Wir haben es in Ur mit einer Gesellschaft zu tun, in der Stände existieren. Ausdrücklich ist von „Adligen“ oder „Edelleuten“ die Rede (144). Am Rang von Ur wird indes kein Zweifel gelassen: es nimmt, so versichert der Erzähler, „die Mitte der Welt ein, jedenfalls der bewohnenswerten“ (ebd.). Man kann schon hieraus schlau werden. Die „Mitte der Welt“ läßt sich kaum anders lesen denn als Spitze der Entwicklung des Weltgeistes. Die Mitte der Welt ist dort, wo Wissen und Können der Menschen am weitesten fortgeschritten und die Formen des Zusammenlebens am meisten dem Gedanken des zivilisierten Daseins ähneln, kurzum: wo sich der Fortschritt der Produktivkräfte und der der Gesittung auf einem höchst möglichem Niveau befinden und beide in ein mehr oder weniger erträgliches Verhältnis gebracht sind.[8] Es ist unterdessen nicht unbekannt, daß Peter Hacks in einer Gesellschaftsformation diesen Umstand als nicht gegeben betrachtete: im Imperialismus, worin Wissenschaft und Technik unleugbar weit entwickelt sind, dessen Verkehrsformen Hacks jedoch für moderne Formen der Barbarei hielt, und es regt sich sogleich der Verdacht, daß wir, um den Ausgangszustand des Reichs Ur zu verstehen, weiter zurückgreifen müssen. Es ist ja nicht das bloße Vorhandensein der kapitalistischen Produktionsweise, in dem Hacks den Grund für die Unbrauchbarkeit derjenigen Gesellschaftsformation sah, in die hinein er geboren wurde, sondern der Umstand, daß der Kapitalismus in ihr allein vorherrscht. Die Formation des Imperialismus unterscheidet sich von den Formationen des Absolutismus oder des Bonapartismus vor allem darin, daß in ihr das Kapital zum alles umfassenden, alles regierenden Prinzip wird und alle anderen Produktionsweisen, wo nicht gar vollständig verdrängt und beseitigt, in ihrem politischen Einfluß nahezu vollständig beschnitten sind. Dieser Zustand konnte erst erreicht werden, seit das Kapital zum Ende des 19. Jahrhunderts hin seine Monopolstruktur angenommen hatte, denn allein diese gibt den verschiedenen Kapitalverbänden, Konzernen oder Holdings die Möglichkeit zu einer politischen Einflußnahme, die groß genug ist, auf nationaler Ebene zu wirken und den Staat gezielt zu beeinflussen. Erst zum Beginn des 20. Jahrhunderts vermochte das Kapital also, die Gesellschaft politisch unter seine Kontrolle zu bringen und also das zu werden, was man eine herrschende Klasse nennt.[9]

Der Zustand, in dem das Reich Ur sich am Beginn der Erzählung befindet, steht also, wie vermutet werden darf, nicht für die imperialistische Ausprägung der kapitalistischen Gesellschaft, sondern für ihre bonapartistische. Ur, die „Mitte der Welt“, befindet sich in einem Zustand des Reichtums, und der Reichtum ist nicht bloß ein quantitativer, sondern äußert sich auch qualitativ: Ur ist „mit Eichenbäumen bepflanzt“, man zieht auch „Sorten wie Walnuß, Mahagoni, Birke und Birne“ (144). Diese Vielfalt wird, wie der Verlauf der Erzählung zeigt, mit den Jahren verschwinden und ersetzt sein durch eine weitgehende Bepflanzung mit Pappeln (177). Wofür steht diese Vielfalt, wofür ihr Verschwinden? Mein Vorschlag ist, die Vielfalt der Baumsorten als Vielfalt der Erzeugungs- und im weiteren Sinne auch der Lebensweisen zu lesen, die in der geschichtlichen Entwicklung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gegeben war, ihr Verschwinden als Sinnbild für jenen Prozeß der vollständigen Kapitalisierung der Gesellschaft, die im 19. Jahrhundert anhub und sich im 20. vollendete. Diese Annahme soll nicht ungeprüft bleiben; das Verfahren der Prüfung ist, daß wir weiter mit ihr arbeiten. Wie bereits gesagt wurde, kannte die bonapartistische Gesellschaft verschiedene Produktionsverhältnisse. Diese bildeten weniger ein System als vielmehr ein Aggregat wirtschaftlicher Verhältnisse, aus dessen Unentschiedenheit in betreff der Machtverhältnisse sich jene politische Struktur herausbildete, die einer politischen Führung (z.B. einem Kanzler Bismarck) eine Politik ermöglichte, die in relativer Selbständigkeit den Interessen der einzelnen Klassen gegenübertreten konnte. Das ist die Ausgangslage, und sie soll, so der Vorschlag, im Anfang der Erzählung (142-147) abgebildet sein. Die weitere Entwicklung soll stehen für das Ende des Bonapartismus und den Übergang zum Imperialismus: Die Ausbreitung des Kapitals, die Unterwerfung der gesamten Gesellschaft unter seine Logik, seinen Griff in die Breite und die Tiefe. In die Breite insofern, als das Kapital alle Bereiche der Gesellschaft – Teile der Basis ebenso wie des Überbaus – unaufhaltsam aufsaugt und aus dem vormaligen Aggregat verschiedener Verhältnisse ein einheitliches, allein seiner Logik folgendes System macht. Griff in die Tiefe insofern, als das Kapital seine Logik allen Bereichen und Individuen aufdrängt, alles sich nach ihr richten muß und das Denken der Menschen unaufhaltsam diese Logik aufnimmt, die sich in ihm verwurzelt und ihm bald als natürliche und selbstverständliche Form erscheint. Hierfür soll, wie sich aus der Analogie entnehmen läßt, die Ausbreitung der Pappelwälder stehen; die Gräfin Pappel also bedeute demnach nichts anderes als das kapitalistische Bürgertum. Sehen wir zu!

Die Gräfin Pappel besitzt Pappelwälder (143) und einige unangenehme Eigenschaften. Die Eigenschaften sind kaum individueller Natur, sondern nach der Gattung. Pappeln sind „einförmig“, „häßlich“ und „überflüssig“ (142). Wo sie wachsen, wächst nichts anderes: „weder Pilz noch Blume“ (ebd.). Der Erzähler nennt sie „hölzerne(s) Unkraut“, ihre Samen sind „weiße(s) Zeugs“ (174). Philiberts Versuch, diese Naturerscheinung auf den Begriff zu bringen, nimmt sich wie folgt aus: „Dies ist gewiß die nichtssagendste aller Pflanzenwelten … sie ist überflüssig und sie zeigt es“ (142). Gegenüber der Gräfin Pappel nennt er deren Eigentum einen „beklagenswerten Mißwuchs von einem Wald“ (143). Was Philibert zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann – er sieht Pappeln dort offenbar zum ersten Mal und urteilt zunächst nur nach dem Augenschein –, erfährt man im weiteren Fortgang der Erzählung. Die Pappeln sind nicht nur häßlich und geistlos, ihr Holz ist auch von schlechter Qualität, also ohne Nutzen. Philibert, ein Fachmann für Holzfragen (142, 152), sagt später über die Gräfin Pappel: „Ich hörte schon früher, sie wolle in Möbeln machen … hatte ihr aber, angesichts des Materials, das sie verwendet, überhaupt keine Aussichten zugebilligt“ (155). In der Tat wird Pappelholz selten für den Möbelbau, nie für wertvolle Möbel verwendet. Es ist sehr leicht, nicht besonders fest, eher porös; kein Holz, mit dem man hochwertige Erzeugnisse herstellen kann. Will man hieraus etwas entnehmen, so läßt sich, eingedenk unserer bisherigen Ergebnisse, durchaus Plausibles finden. Einige Berühmtheit erlangte jene Auffassung von Peter Hacks, die besagt, daß der Kapitalismus an einer „Unfähigkeit zu produzieren“[10] leide, daß unter den Bedingungen seiner Monopolstruktur ein „Herunterkommen des Warenbegriffs“[11] sich ereignet habe und ihm die „Unbrauchbarkeit … offen auf die Stirn geschrieben“[12] stehe. Im Angesicht der Tatsache, daß uns die nämlichen Eigenschaften im Fall der Gräfin Pappel vom Dichter so offen serviert werden, ist es vielleicht nicht verkehrt, hierin ein weiteres Indiz dafür zu sehen, daß des Dichters Absicht die war, in der Gräfin Pappel eine Metapher für den Kapitalismus bzw. die Klasse der Kapitalisten zu schaffen, welche Vermutung wir aber dennoch weiter durch die Erzählung abzusichern und ferner noch präziser zu bestimmen haben. Zur Unbrauchbarkeit hinzu treten, wie bereits bemerkt, Häßlichkeit und Geistlosigkeit; zwei weitere Eigenschaften der Pappel also, die Peter Hacks dem kapitalistischen Bürgertum, in Ansätzen bereits dem des 19. Jahrhunderts, ohne Einschränkung aber dem des imperialistischen Zeitalters, zuschrieb. Zu diesen drei Eigenheiten tritt eine Sorte von Betragen, die so unangenehm wie einprägsam ist. Die Pappel hat die Angewohnheit, jeden Ort, an dem sie geht und steht, mit sich vollzumachen und Andersartiges zu verdrängen, was durchaus an das Aufstreben des Bürgertums im Zeitalter des Absolutismus und Bonapartismus erinnert, in denen das Kapital sich immer weiter ausbreitete und die anderen Erzeugungsweisen zu überflügeln und in letzter Konsequenz zu beseitigen sich anschickte. Das einnehmende und alles beanspruchende Wesen der Pappel durchzieht die gesamte Erzählung. Sie macht sich, obgleich kaum willkommen, am Hof des Königs von Ur breit (146f.), sie fordert, obgleich nichts Bindendes vorliegt, die Ehe mit Philibert (146), ihre Ländereien sind „ins Unermeßliche gewachsen, viele ältere Wälder waren von Pappelwäldern verdrängt“ (ebd.). Später, als sie Philibert in der Oase Schönschein trifft, redet sie beiläufig über Geschäftliches: Was anstehe, sei „die Aufforstung Ihrer Wälder; ich verfüge über Kassenbelege, welche erweisen, daß nur Pappeln für den Besatz in Frage kommen“ (167). Und das Ende der Erzählung hält für uns die Information bereit, daß das „Haus der Bäume“ – wohl eine Art Ständevertretung – immer noch „der Mischwald“ heiße, obwohl es fast ausschließlich aus Pappeln bestehe (177). Ebenfalls erhellend für ihre aggressive und einnehmende Natur ist ihr Einsatz bei der Zerstörung der neuen Welten im Reich des Eostro sowie der Ermordung der Liebschaften von Philibert. Beide Geschäfte erledigt sie mit zunehmender Offenheit und Aggressivität. Tiny wird noch nicht eigens von der Pappel umgebracht; der Kampf gegen die weibliche Konkurrenz erledigt sich dort einfach mit dem Untergang der neuen Welt. Auf die Halbjungfrau verübt die Pappel selbst und eigens einen Mordanschlag, der allerdings scheitert. Der Mordanschlag auf die Tochter des Backwoodsman wird zwar von Eostro in Gang gesetzt, aber er glückt; Mordinstrument ist nicht zufällig eine Pappel. Sich ähnlich steigernd geht es in ihrem Kampf gegen die neuen Welten zu. Auf der Rieseninsel taucht sie erst nach dem Tod des Riesenkönigs auf; sie liefert den Sarg zu seiner Beerdigung. Sie begleitet das Ende der Insel, deren Untergang sie aber nicht selbst bewirkt. Die erste Ursache für den Untergang ist des Riesenkönigs Hinscheiden, das noch von Eostro ins Werk gesetzt wird, die zweite die Tektonik. In der Oase Schönschein ist es ebenfalls nicht die Pappel, die den Untergang direkt durchsetzt, aber sie erscheint schon als unmittelbar beteiligt. Sie führt die Ewigen Drei aus ihrer Isolation, wodurch diese die anderen Äfferlinge infizieren und somit den Untergang der Oase einleiten können. Am Berg Teltow endlich taucht die Pappel offen als militärische Macht auf. Sie selbst schlägt die neue Heimat Philiberts.

Wie ist es um die Stellung der Pappel in der Gesellschaft Ur, wie um ihre politische Macht bestellt? Ur, wissen wir, hat einen König. Der tritt als souveräner, wenn auch nicht frei von Behinderung regierender Monarch auf. Er regiert, woraus wir entnehmen können, daß eine konstitutionelle Monarchie nicht vorliegt, und er regiert allein, weswegen wir wissen, daß es sich nicht um eine formelle Monarchie ständischen Wesens handelt. Er ist keineswegs das, was er offenbar später geworden ist: der Befehlsempfänger gewisser Kräfte bei Hof, namentlich der Gräfin Pappel. Als diese während des Staatstreffens mit Eostro in den Thronsaal platzt und das Wort ergreift, weist er sie zurück (145), als sie ihr Ansinnen, Philibert zu ehelichen, vorträgt, verwehrt er es ihr (147). Wir übersetzen diesen Sachverhalt auf die Ebene der Bedeutungen, die wir uns gewählt haben: In Ur stehen Politik und Ökonomie in einem Gegensatz oder können doch zumindest gegensätzliche Interessen haben. Die Pappel scheint noch nicht über die Druckmittel zu verfügen, die Exekutive zum bloßen Instrument ihres Willens zu machen, das Regiment des Königs scheint noch von Gründen geleitet zu sein, die nicht die einfache Übersetzung der Interessen der Pappel ins Politische, sondern durchaus sittlicher Natur sind.[13] Die Gräfin Pappel gehört zwar zum Adel von Ur und hat Zugang zum Hof, sie wird aber gemeinhin nicht als edel betrachtet: „Mit der Hoffähigkeit der Pappel war es keinesfalls weit her. Sie genoß einen schlechten Ruf oder doch einen bestrittenen.“ Sie „entstammte dem niedersten Unterholz“ und wurde nur aufgrund zweifelhafter Dienstleistungen „gegraft“, aber: „Ihre Ländereien waren ins Unermeßliche gewachsen, viele ältere Wälder waren von Pappelwäldern verdrängt“, und also „gehörte sie zum engen Kreis, ob man sie dort gern sah oder ungern“ (146). Folgen wir weiterhin der Idee, in der Pappel das kapitalistische Bürgertum repräsentiert zu sehen, so finden wir wiederum eine doch ziemlich genaue Abbildung der Vorgänge, wie sie sich geschichtlich ereignet haben. Sieht man von Sonderfällen wie etwa Teilen der englischen Gentry oder der deutschen Junker ab, bei denen ja nur das bemerkenswert ist, daß Eigentümer, die ursprünglich nicht bürgerliche Produktionsweisen betrieben, den Betrieb ihres Besitz aus Gründen der Produktivität bewußt auf diese umstellten, entstammt das Bürgertum mitsamt seiner Produktionsweise nicht den höheren Sphären der Gesellschaft. Wodurch es an Einfluß und Macht in der Gesellschaft gewann, war in der Tat seine wirtschaftliche Stärke, die dem Zuwachs seiner politischen Macht vorausging. Diese aber wuchs sukzessive. Zum einen, weil die wirtschaftliche Macht mit der Zeit immer vehementer ihren politischen Ausdruck forderte, zum anderen, weil das Bürgertum, insbesondere in der Frühphase des Absolutismus (siehe etwa die Politik Heinrichs VII. von England) den Monarchen zuweilen ein wichtiges Hilfsmittel gegen den Machtanspruch des Adels war. Wie die Geschichte ausging, ist ebenso bekannt wie es weiter oben bereits erwähnt wurde: Gegen Ende des 19. Jahrhundert erlangte das Bürgertum aufgrund der sich herausbildenden Monopolstruktur des Kapitals die Möglichkeit, die gesamte Gesellschaft seiner Botmäßigkeit zu unterwerfen. Die eigentliche und wirkliche bürgerliche Revolution in Deutschland fand statt mit der Absetzung Bismarcks (1890); alle früheren Ereignisse waren Tumulte, keine Revolutionen; die Regierung Ebert (1919) wiederum ist im günstigsten Fall die Vollendung dieser Revolution, nicht ihr Höhepunkt und erst recht nicht ihr Anfang. Wir erleben nun später in der Erzählung einen ähnlichen Machtzuwachs der Gräfin Pappel, wie ihn das Bürgertum historisch erhielt. War die Pappel in der Zeit, in der Philibert in Ur noch seine Zukunft sah, in einer Stellung, in der es mit ihrer „Hoffähigkeit … keinesfalls weit her“ war, so können wir einige Zeit später einem Brief des Königs von Ur an den König der Riesen entnehmen, daß die Pappel seinem Thron nahestehe (153). Ein paar Feldzüge später steht die Pappel schließlich gar an der Spitze der Kriegsflotte von Ur: „Das Linienschiff, welches die Flotte anführte, hieß ›König von Ur‹, aber das war nicht ernst gemeint. Auf dem Hinterdeck stand die Gräfin Pappel“ (174). Auf dem Hinterdeck befindet sich bei Schiffen für gewöhnlich der Kommandostand; ohne Zweifel aber läßt die Erzählung den Leser darüber, in wessen Interesse der Kriegszug durchgeführt wird. Ein Gleiches ergibt sich in der Erzählung der ersten Ebene: Allan Gagelbusch steht, wie er am Anfang der Erzählung bekannt gibt, „im Dienst des Seefahrtsamts seiner Majestät des Königs von Ur“ (141), will aber Philibert am Ende der Handlung „im Namen der Frau Gräfin Pappel“ verhaften (178). Wir haben also neben dem realen Machtzuwachs der Pappel durchaus die Aufrechterhaltung des Scheins, alles sei bei alten Verhältnissen, und auch das hat, wie der politische Machtzuwachs, in den historischen Vorgängen eine recht genaue Entsprechung. Denn obgleich im 20. Jahrhundert das Bürgertum vermochte, die gesamte Gesellschaft unter seinen Einfluß zu bringen, zog und zieht man – wer immer man sei – es vor, eine formelle Trennung der gesellschaftlichen Machtbereiche – Exekutive, Legislative, Judikative, Militär, Medien und Wirtschaft – beizubehalten. Ein breites und dicht gewobenes Netz personeller Bindungen, durch das der sogenannte Lobbyismus wirkt, sichert denjenigen Gruppen, die über wirtschaftliche Macht und also über eine Lobby verfügen, zwar den größten Einfluß auf die Vorgänge auf der nationalen Ebene, aber trotzdem scheint es sich als vorteilhaft erwiesen zu haben, dieses System dezentral und sich selbst regelnd laufen zu lassen. Die reinste Form der bürgerlichen Herrschaft ist die parlamentarische, denn das Parlament als Gemeinschaft verschiedener Interessen Gleichartiger ist seinem Wesen nach ebenso partikularistisch, seine Verfassung ebenso der Naturzustand wie die Gemeinschaft der Konzerne eine partikularistische ist und als unorganisierter Verbund verschiedener Interessen Gleichartiger sich miteinander im Naturzustand, also denkbar weit vom Zustand der Gesittung entfernt befindet. In diesem Lichte gesehen, erhellt sogleich auch jene Stelle in der »Gräfin Pappel«, die wir weiter oben bereits beim Wickel hatten: das „Haus der Bäume“, das auch dann noch „der Mischwald“ genannt wird, als es fast ausschließlich schon aus Pappeln besteht (177). „Das Parlament als Interessenvertretung“, sagt Peter Hacks, „jene Art von Kammer, wo an die Lobby aus Schmuckgründen auch noch ein Raum angebaut ist, worin man redet, ist wirklich das fortgesetzte Parlament als Ständevertretung und mit seiner pluralistischen Scheinfreiheit von der bonapartistischen Idee eines die Nation versammelnden Senats so fern wie das. Dem König, der nichts zu sagen hat, folgt der Staat, der für nichts kann.“[14] Schärfer: „Parlamentarische Demokratie, das ist die Befehlsgewalt einer Kammermehrheit. Von allen Herrschaftsformen ist die Oligokratie die schlechteste, und von allen Oligokratien die schlechteste ist die Befehlsgewalt einer Kammermehrheit.“[15]

Indessen hält die Erzählung dem Leser eine Erklärung für den politischen Machtzuwachs der Gräfin Pappel bereit: den Palastheizer von Ur. Der Heizer ist ein sensibles Gemüt und äußerst wetterfühlig. Infolgedessen ist er ein „Schönwetterheizer“ (145), d.h. er heizt nur, wenn er sich wohlfühlt, und fühlt sich nur wohl, wenn warmes Wetter ist. Daß ein Heizer die Wärme liebt, soll schon vorgekommen sein, aber die Heizer in unserer Welt wissen, daß sie gerade gebraucht werden, wenn es an Wärme fehlt. Der Palastheizer von Ur heizt, wenn es warm ist, und legt sich schlafen, wenn es kalt ist. Die Folge ist, daß der Palast des Königs von Ur im Sommer „besonders warm und wintersüber besonders kalt“ ist (ebd.). Die Folge davon wieder ist, daß der König von Ur ein Halsleiden hat, das ihn hindert, mit dem Kopf zu schütteln: „Der König von Ur konnte nicht nein sagen“ (146). Soweit vorgestoßen, wagen wir, auch diese Erzählung in unserem Sinne zu interpretieren. Woran erinnert das Benehmen des Heizers? Er befriedigt ein Bedürfnis genau dann, wenn er es am meisten befriedigt sieht, und stellt diese Tätigkeit genau dann ein, wenn er es am wenigsten befriedigt sieht. Der Heizer heizt nicht, wie er müßte, gegen das Wetter, sondern mit ihm. Geht man zu weit, wenn man hierin ein (zugegeben: nicht voll entfaltetes) Sinnbild für den Krisenzyklus des Kapitals sieht? In einer Hinsicht zumindest sind die kapitalistischen Produzenten wie der Heizer: in der Konjunktur produzieren sie stärker, in der Krise drosseln sie die Produktion, obwohl die Vernunft doch das umgekehrte Verhalten geböte. Auf diese Weise kommt es zur Überproduktion und der ihr folgenden Krise. Jede Krise aber erschüttert auch die politischen Verhältnisse. Die Politik wird also durch die Bewegungen der Wirtschaft am souveränen Regieren gehindert. Des Königs Halsleiden, heißt es in der Erzählung, ist eine „Behinderung, die ihn beim Herrschen schon in manche Verlegenheit geführt hatte und die ihn … endlich um alle Gewalt bringen würde“ (146). Wir befinden uns, wie schon mehrfach gesagt, am Ende der bonapartistischen Gesellschaft, einer Staatsform, in der die Wirtschaft nicht einfach „identisch mit dem Staat“[16] ist, aber eben in der letzten Staatsform dieser Sorte. Die Zukunft gehörte so unabweisbar wie ersichtlich der bürgerlichen Klasse, wie die Zukunft von Ur der Gräfin Pappel gehört.

Wir haben demnach die Figur der Pappel genauer zu interpretieren als das kapitalistische Bürgertum, wie es sich von den Fesseln der bonapartistischen Gesellschaft befreit, indem es zum Finanzkapital wird. Indes stellt sich dagegen eine andere Frage. Wenn die Pappel innerhalb des Reichs Ur einen echten Gegenspieler besitzt, dann ist es Philibert. Wofür steht Philibert, wofür kann er stehen? In Philibert, darin scheinen alle Leser der »Gräfin Pappel« einig, begegnen wir unverkennbar Peter Hacks; jener spiegelt nicht nur die Lebensgeschichte von diesem, die Geschichte gibt auch einige Auskünfte über ihn, in denen man Selbstbildnisse des Dichters erkennen kann.[17] Ist es aufgrund jener Autobiographika geboten, weitere Bedeutungen der Figur Philiberts auszuschließen? Genauso wenig, wie gesagt ist, daß die autobiographische Lesart die hauptsächliche Bedeutung ist.

Philibert ist Waldbesitzer sowie „Baumschulist und Edelmann“ (ebd.), vereint also in sich: Besitz, Arbeit und gesellschaftlich hohe Stellung. Dasselbe gilt auch mehr oder weniger für die Gräfin Pappel. Dennoch unterscheiden sich Philibert und seine Gegenspielerin stark in ihrer Art, sich zu betragen und damit mutmaßlich auch in der Art, ihren Besitz zu führen. So verhalten und duldsam Philibert ist, so aggressiv und einnehmend ist die Pappel. Philiberts gesellschaftlicher Ruf scheint ohne Schatten, der König ruft ihn anläßlich wichtiger Ereignisse eigens an den Hof (144). Dies und daß er keinesfalls im Verdacht steht, Pappeln zu züchten, setzt ihn, wie es scheint, außer Verdacht, dieselbe gesellschaftliche Gruppe zu verkörpern wie die Gräfin Pappel. Er kann aber auch kaum für den Adel stehen, denn dieser scheint Peter Hacks im Ernst zu beschäftigen nur dort fähig gewesen zu sein, wo er noch eine gesellschaftliche Rolle und eine Zukunft besaß, ein Zustand, der am Ende der bonapartistischen Periode nicht mehr gegeben ist. Ferner scheint kaum plausibel, warum Philibert im Angesicht des Umstandes, daß seine Fähigkeiten im Reich Eostro schlechterdings gebraucht werden und er dort durchaus willkommen ist, für den Adel stehen sollte. Daß Philibert für das Proletariat stehen könnte, muß jedoch ebenfalls ausgeschlossen werden. Dafür ist seine politische Stellung in Ur zu hoch, dafür ist er zu deutlich als Besitzender charakterisiert. Vielleicht also steht er wie die Pappel für das Bürgertum, aber für eine andere Sorte Bürgertums. Wie müßte man sagen, wenn man einem Leser, dessen geschichtliche Kenntnisse nicht die eines Fachmanns sind und der über keinen tieferen Einblick in die politische Ökonomie verfügt, erklären wollte, für welchen gesellschaftlichen Typus die Figur der Gräfin Pappel steht, damit man von ihm sofort verstanden wird? – Hagenström müßte man sagen. Was freilich umgehend die Frage aufwirft, inwieweit Philibert Buddenbrook sein könnte. Das patrizische Bürgertum war das durch den Absolutismus zivilisierte Bürgertum. Es ist die Form, in der das Bürgertum sich in diesem gesellschaftlichen Umfeld auch politisch behaupten und anerkannt sein konnte. Zum Nachteil seines gesellschaftlichen Verhaltens, seiner Gesittung, war das nicht, aber das 19. Jahrhundert ist der Ort, an dem es unzeitgemäß wurde, weil es von einer Sorte Bürgertums verdrängt wurde, die mit der reinen Kraft des Kapitals und ohne Rücksicht auf jegliche außerökonomische Gesetzmäßigkeit oder Konvention operierte. Auf den ersten Blick scheint das Verhältnis Philibert-Pappel ziemlich genau das Verhältnis abzubilden, das im 19. Jahrhundert das traditionelle, patrizische Bürgertum und das neue, aufstrebende Bürgertum besaßen. Wie der Konsul Buddenbrook und Hermann Hagenström sind Philibert und die Pappel einander aufs Äußerste wesensfremd. Wie jener ist Philibert gesellschaftlich und politisch etabliert, und wie dieser besitzt die Pappel den Geruch des Parvenüs. Wie jener folgt Philibert den Konventionen seiner Umgebung, wie dieser pfeift die Pappel auf dieselben. Wie jener wird Philibert im dauernden Kampf um den Waldbestand, d.h. um die wirtschaftliche Vorherrschaft, aufgrund seiner verschiedenen Rücksichten der Pappel unterlegen sein, wie dieser wird die Gräfin Pappel, weil sie ausnahms- und rücksichtslos ihren Interessen folgt, auf Dauer der Sieger im Kampf um die Vorherrschaft der Gesellschaft sein.

Aber Philibert geht ins Reich Eostros, und Peter Hacks ist nicht Thomas Mann. Er entstammt nicht dem Großbürgertum, sondern dem Kleinbürgertum, und was immer sich von den Tugenden des patrizischen Bürgertums sagen läßt, in der »Gräfin Pappel« ginge Philibert als dessen Verkörperung in die neue Welt, und das hieße, in die Bedeutungsebene übersetzt, daß das Patrizische im Sozialismus in irgendeiner Weise aufgehoben gewesen sei, eine Lesart, die kaum haltbar ist. Wollte man aber Philibert stattdessen als Verkörperung des Kleinbürgertums[18] auffassen, so ließe sich wohl zunächst das einwenden, daß dieser in der Ausgangslage der Erzählung kaum als solcher genommen werden kann. Seine Stellung in Ur ist, wie bereits festgehalten, nicht grundlegend von der der Gräfin Pappel verschieden. Und doch bietet diese Lesart Perspektive, vor allem hinsichtlich dessen, daß Philibert in das Reich Eostros geht. Nicht nur, daß das Kleinbürgertum eine gesellschaftliche Erscheinung ist, die sich auch im Sozialismus fand, sondern auch in Hacksens Vorstellungswelt findet sich ein Gedanke, der in diesem Zusammenhang höchst aufschlußreich ist: seine Interpretation von Hartmut Langes »Marski«. Marski ist ein Großbauer, also ein Vertreter der Landbourgeoisie, dem die Freunde, die bei ihm als Landarbeiter angestellt sind, in den Kolchos entlaufen. Ohne ihre Arbeitskraft kann Marski den Hof nicht bewirtschaften, und sein größtes Bedürfnis, der gemeinsame Genuß mit den Freunden, wird unter den neuen Bedingungen so unmöglich, wie er unter den alten Trug war. Marski wählt den Freitod, die Freunde finden ihn erhängt und schneiden ihn vom Strick: aufersteht der neue Marski. Hacks deutet den Tod und die Auferstehung Marskis als Sinnbild für die Aufhebung des Bürgerlichen im Sozialismus: „So wird Marski nicht umerzogen, wie es in vielen traurigen Stücken oder Vorfällen geschieht, wo einer am Ende ein guter Sozialist ist und kein Mensch mehr. Natürlich wird Marski auch nicht einfach übernommen. Er wird entlassen als der alte und mehr als der alte, als der aufgehobene Marski.“[19] Um den Übergang in den Sozialismus zu bewältigen, muß der Großbauer Marski seine Eigenschaft, Aneigner fremder Arbeitskraft zu sein, ablegen, denn der Sinn der Aufhebung ist nicht das Bürgerliche als solches, sondern jene Qualitäten, die an ihm aufhebbar und der Aufhebung wert sind, und der historische Ort, an dem das geschehen konnte und geschah, war die DDR der sechziger Jahre: „Das Neue Ökonomische System ist die historische Stelle, wo der Sozialismus aus der bloßen und beschränkten Verneinung der Ausbeutergesellschaft sich steigert zur Aufhebung aller geschichtlichen Leistungen vor ihm. Als der Sozialismus schwach war, unterschied er sich von der Weltzivilisation, indem er sie verleugnete; nun, da er stark ist, unterscheidet er sich von ihr, indem er sie frißt. Sie drückt ihn nicht im Magen; er verdaut sie; er läuft nicht mehr Gefahr, bei diesem Stoffwechsel Schaden an seiner Substanz zu nehmen. … Weil der Sozialismus fest sitzt, können Marskis bürgerliche Tugenden (Genußfähigkeit, Spezialistentum) sozialistische Tugenden werden.“[20] Der Fall Philibert liegt ganz ähnlich: Er geht, was er nur kann, indem er seine Besitztümer in der alten Welt zurückläßt, in die neue, und dort hat man Verwendung für ihn und seine besonderen Fähigkeiten. So arbeitet er etwa auf der Insel der Riesen als „Bebaumer“ (152) und geht dem Klausner bei seiner Gelehrtentätigkeit zur Hand (170f.), verrichtet also die Arbeiten eines Spezialisten. In gewisser Hinsicht läßt sich auch sagen, daß Philibert den Genuß auf die Insel der Riesen, wo die Sittlichkeit vorherrscht, bringt. So wäre Philibert das im Sozialismus aufgehobene Bürgerliche. Sicherlich, da ist eine gewisse begriffliche Unschärfe: einfache und kapitalistische Warenproduktion haben zwar denselben Ursprung und gehören in dieselbe Linie der Entwicklung, aber ihre Vertreter können nicht einfach als Vertreter derselben Klasse aufgefaßt werden; Spezialistentum (Handwerk, Kunst, Wissenschaft usf.) scheint auch im Kapitalismus schon eher die Tugend des Kleinbürgertums zu sein als die des Kapitals, das in seiner reinen Form sich von der Arbeit abgrenzt, sich ihr entgegensetzt; Genußfähigkeit schließlich ist etwas, das dem Bürgertum, wo es Kapital ist, sogar vollständig abgeht, denn nichts anderes bedeutet ein Wirtschaftsablauf, in dem ausschließlich um der Akkumulation willen akkumuliert wird. Aber von Unschärfe lebt die Poesie, wie anders sollte sie die Vielseitigkeit des Lebens widerspiegeln, die von den Begriffen der Wissenschaft nie anders eingefangen werden kann, als dadurch, daß sie festgehalten und so in gewisser Weise getilgt wird? Für hier und jetzt aber bietet uns die Linie, die Peter Hacks zwischen dem alten und neuen Marski konstruiert, genau die begriffliche Einheit Philiberts, die es uns erlaubt, ihn, obgleich er teils Klein-, teils Großbürgertum, als Inbegriff des Bürgerlichen zu sehen, insofern es zivilisier- und aufhebbar ist. Gerade weil er mehr ist als Rendite, Zins und Profit, sondern Werte des Lebens erstrebt und bedeutet, steht er in einem so scharfen Kontrast zur Gräfin Pappel, die wirklich nichts über Rendite, Zins und Profit hinaus ist. Philibert besitzt seine Wälder, die Pappel ist ihre Wälder. Sie ist nichts drüber, und indem sie so ganz in ihren Wäldern aufgeht, hat sie keine Möglichkeit, diese zu beherrschen, da sie jeden Gesichtspunkt mit ihren Wäldern teilt. Wer seiner eigenen Sache nicht als Fremder gegenübertreten kann, kann sie nicht regieren, wird also von ihr regiert.

  1. Verhältnisse im Reich Eostros

Wenn Philibert Ur verläßt, dann nicht, weil es ihn in das Reich Eostros zieht, sondern weil er aus Ur flüchtet. Wenn er im Reich des Eostro sein Glück findet, dann nicht, weil er es dort gesucht, sondern weil er es dort gefunden hat. Wußte Hacks 1955, was ihn in der DDR erwartet? Das Reich des Eostro steht, wie wir uns oben verständlich zu machen bemüht haben, für die sozialistische Hälfte der Welt, die Weltgegend also, in die es den Dichter der »Gräfin Pappel« gezogen hat. Philibert lebt, soweit wir erfahren, in drei Ländern. Diese Länder, um vorwegzunehmen, was erst noch gezeigt werden soll, verkörpern jedoch nicht verschiedene Regionen oder verschiedene Staaten innerhalb des östlichen Machtblocks, sondern dreimal denselben Ort: die DDR bzw. dasjenige Stadium, in dem der Sozialismus, den Peter Hacks aus eigener Anschauung erlebt hat, sich befand.[21] Drei neue Welten: Die Insel der Riesen (150-156), die Oase Schönschein (159-168), der Berg Teltow (169-176); sie alle liegen isoliert: Die Insel im Wasser, die Oase in der Wüste, der Berg zwischen Wüste und Meer. Was immer an sie grenzt, es ist nicht die Zivilisation. Die drei Welten sind dreimal die gleiche und sind es nicht. Philibert erlebt den Untergang der neuen Heimat dreimal, aus drei verschiedenen Aspekten: auf der Insel politisch, in der Oase ästhetisch, am Berg ökonomisch. Wir haben die Politik, die Kunst und die Ökonomie – eine Trinität, die uns von Hacks her vertraut ist: „Wenn erst die Anspruchslosen jeder Richtung, / Das Zwergenmaß in Wirtschaft und Partei, / Mit einem einzig letzten Feind, der Dichtung, / Sich einig werden, wie zu leben sei, / Entsteht bei uns, auf andre Art, dasselbe / Zweckmäßig triste Reich wie links der Elbe.“[22]

3.1 Die Rieseninsel

Auf seiner Flucht aus Ur begibt es sich, daß Philibert über Bord des Schiffes geht, das ihn von der Gräfin Pappel fortbringen soll. Das Schiff läßt ihn wassertretend zurück, Aug in Aug mit dem Haupt eines Riesen, das aus dem Wasser ragt. Der Riese, stellt sich bald heraus, ist der König einer Kolonie von Riesen, und diese Riesen schaffen, indem sie den Meeresboden zu einem Berg aufschaufeln, dort, wo vorher nur Wasser war, eine Insel. Bevor diese Tatsachen allerdings geschaffen sind, befinden sich der Riesenkönig und Philibert einander gegenüber, der König auf dem Grund stehend und aus dem Wasser ragend, Philibert, sich durch Wassertreten auf dem Meer haltend. In dieser Situation ergibt sich folgendes seltsames Gespräch: Der Riesenkönig teilt Philibert mit, daß nicht nötig sei, Wasser zu treten. Philibert solle sich auf die Insel stellen. Dieser entgegnet, er sähe keine Insel. Darauf versetzt der Riesenkönig: „Sie hat die Oberfläche noch nicht erreicht … aber sie ist vorgesehen“ (150). Philibert, dem inzwischen auch die Kräfte ausgegangen sind, hört auf zu strampeln, läßt sich sinken und bekommt tatsächlich Land unter die Füße. „Sie meinen“, fragt er, „ich fuße auf einer vorgesehenen Insel?“, und der Riesenkönig antwortet: „Die Gegenwart ist nicht die wirkliche Zeit … Wer die Zukunft mit einrechnet, braucht nicht zu strampeln“ (ebd.).

Bereits dieses Vorspiel macht den gesellschaftlichen Rang und die geistige Tragweite der Sphäre deutlich, in der sich Philibert nunmehr befindet. Während Ur selbst dort, wo es sich wandelt, sich nur verändert, entsteht auf der Insel der Riesen Neues aus dem Nichts. Es geht um Bedeutsames, mithin um keine geringere Frage als die von Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Worauf der Riesenkönig im Dialog mit Philibert verweist, das ist, daß das Mögliche auch eine Form von Wirklichkeit besitzt. Damit ist die Grundüberzeugung einer jeden Transformationsperiode formuliert. Wo ein Übergang von einem Alten zu einem Neuen stattfindet, liegt die Identität der Gesellschaft im Prozeß, ist ihr Wesen die Veränderung, ihre Aktualität das Potentiale. Das Mögliche, indem es gedacht und seine Realisierung angegangen wird, ist schon nicht mehr vollkommen unwirklich. Aber natürlich ist es nicht wirklich wirklich, und die Grundüberzeugung von Übergangsgesellschaften ist nicht einfach identisch mit der nüchternen Untersuchung von deren Wirklichkeit. Die Grundüberzeugung ist Ausdruck des Bewußtseins derjenigen Subjekte, die den Übergang aktiv betreiben. In der DDR waren das die politischen Kräfte, vornehmlich der SED, in der Erzählung sind es die Riesen. Vielleicht sollte man nicht ohne weiteres die Riesen als Verkörperung dessen nehmen, was Peter Hacks „Klasse des Parteiapparats“[23] nennt; hierzu fehlt auf der Insel fast vollständig jene Konfiguration, die nach Hacks die Architektur des Machtverhältnisses im Sozialismus ausmacht; das Gegengewicht des Apparats, die Spezialisten, treten auf der Insel nicht als gesellschaftliche Gruppe auf. Aber man darf wohl die Riesen für das Politische des Sozialismus nehmen, sie stehen für seine Gründer. Und deren Grundüberzeugung, die wir eben beschrieben haben, kann, wie die Erzählung zeigt, im Widerspruch zu dem stehen, was den Tatsachen nach vorliegt. Menschen, die ihr Leben damit verbringen, Neues zu schaffen, neigen vielleicht mehr als andere dazu, die Idee zu einem Entwurf bereits für seine Wirklichkeit zu nehmen. Diese Art Verwechslung ist aber weniger Berufskrankheit als vielmehr Voraussetzung für den Erfolg ihrer Tätigkeit. Eine wichtige Tugend der Riesen ist ihr Elan, ihr Optimismus. Diese Haltung kann nur unter Leuten virulent werden, deren Neigung dahin geht, sich immer etwas mehr als dafür, wie die Welt ist, dafür zu interessieren, wie sie sein sollte. Revolutionäre, wenn sie Revolutionäre sein wollen, müssen immer ein bißchen mehr im Morgen leben als im Heute.

Von der anderen Seite, der Philiberts, her betrachtet, scheint das Zwiegespräch Biographisches zu spiegeln: Peter Hacks dürfte mit keinen anderen Ansprüchen in die DDR gekommen sein als die vielen anderen Künstler und Intellektuellen, die seinen Weg gingen, und auch wenn man bei ihm schon früh einen ausgeprägten Realismus in gesellschaftlichen und politischen Fragen entdecken kann, so dürfte doch auch eine gewisse Ernüchterung bezüglich der sozialistischen Wirklichkeit im Spiel gewesen sein. In seinem Stück »Die Sorgen und die Macht« findet sich eine Stelle, die Anspruch und Wirklichkeit des Sozialismus ins Verhältnis setzt: „Kollegen, Kommunismus, wenn ihr euch / Den vorstelln wollt, dann richtet eure Augen / Auf, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil; / Denn wenig ähnlich ist dem Ziel der Weg. / Nehmt so viel Freuden, wie ihr Sorgen kennt, / Nehmt so viel Überfluß wie Mangel jetzt / Und malt euch also mit den grauen Tinten / Der Gegenwart der Zukunft buntes Bild.“[24] Zuweilen pflegte Hacks eine Sorte Optimismus, die bei den meisten anderen Menschen unvermittelt in den Pessimismus geführt hätte. Wenn etwa Kurt Hager mit Blick auf „Die Sorgen und die Macht“ äußerte, Hacks fehle „neben dem Blick für die Schönheit … auch der Blick für die Größe der gegenwärtigen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“[25], dann war das, auch wenn es hinsichtlich der Absolutheit, in der Hacks das Verhältnis von kommunistischen Ziel und sozialistischer Wirklichkeit gezeichnet hatte, ein nicht ganz unberechtigter Tadel war, das Jaulen des Hundes, den man an der wundesten Stelle getroffen hat. Hier ist nicht der Ort, die politischen Entwicklungen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre zu beleuchten, aber das allgemeine Verhältnis ist dies, daß die große Kunst, die unausgesetzt verlangt wurde, nicht zufällig erst um 1963 herum einsetzte, dort nämlich, wo, wie Hacks z.B. in seiner Interpretation des »Marski« äußert, der Sozialismus den Sprung aus der bloßen Verneinung der alten Gesellschaft in eine eigenständige, in sich lebendige Gesellschaft zu vollziehen begann. „Genau in dem Moment“, äußert Hacks im selben Jahr, in dem die »Gräfin Pappel« entstand, „wo ich also diese ästhetischen Schlüsse zog, machte dieses Land hier [die DDR – FB] seine ungeheuren Sprünge zum Funktionierenden, zum Heilen und zum Guten. Das heißt also, die Gegenwart bot mir genau das an, was ich aus ästhetischen Gründen sowieso gemacht haben würde.“[26] Wir erinnern uns: in dem Moment, in dem Philibert, mehr aus Erschöpfung als aus Vertrauen in das Wort des Riesenkönigs, sich sinken läßt, bekommt er Boden unter die Füße. Kunst, teilt uns diese Szene mit, bedarf mehr als des politischen Postulats einer Wirklichkeit, auf der sie fußen und aus der sie sich nähren kann.

Die Lebensweise auf der Insel ist einfach. Die Riesen haben nichts und müssen sich, was sie brauchen, schaffen. Sich nützlich zu machen ist bei ihnen folglich Brauch (152). Ihre Insel ist von anfangs her ein „nackter Felsen“ (156), und Philibert wird gebraucht, um Bäume anzupflanzen, da auf ihr, die einmal aus dem Wasser gehoben wurde, von selbst keine Bäume wachsen (152). Die Riesen besitzen verschiedene Eigenschaften, deren eine, die Sittlichkeit, vom Dichter besonders hervorgehoben wird (150f.). Was mag es damit auf sich haben? Wenn wir im Abschnitt über die Verhältnisse von Ur des öfteren auf den Fortschritt in der Gesittung zu sprechen kamen, so haben wir darunter nichts anderes verstanden als das, was der Dichter offenbar mit der Sittlichkeit der Riesen ausdrücken will. Sittlichkeit, das meint die Form des menschlichen Zusammenlebens; diese Form äußert sich geistig, in den Haltungen der Menschen und der vorherrschenden Moral, aber sie bildet sich auch objektiv ab, als Geist, der in den Einrichtungen und Verhältnissen wohnt. Wenn die Riesen vom Dichter als von Sittlichkeit durchdrungene Wesen gezeichnet werden, dann muß das nicht unbedingt bedeuten, daß sie in Fragen der Sittlichkeit allen anderen Wesen überlegen sind. Was es vielmehr zu bedeuten scheint, ist, daß ihre Weise, an das Leben heranzugehen, stark vom Blickwinkel der Sittlichkeit geprägt ist. Das meint: Die Riesen, von denen wir oben behauptet haben, daß sie für das Politische im Sozialismus stehen, betrachten alles im Lichte der Frage, wie gerecht, wie zivilisiert, wie moralisch es ist. Was es aber damit auf sich hat, wird klar, wenn man die Hackssche Theorie der „sozialistischen Klassen“[27] erinnert. Hacks kennt zwei Klassen, die am konstituierenden Widerspruch der Politik in der sozialistischen Gesellschaft einen Anteil haben: den Parteiapparat und die Spezialisten.[28] Der Apparat verkörpert das Was, die Spezialisten das Wie der sozialistischen Gesellschaftsbewegung. Jener hat die Funktion, das Ziel der Bewegung – als welches eine gerechte, friedliche und reiche Gesellschaft vorgestellt ist – im Auge zu behalten, diese sollen die Bedingungen schaffen, dort hinzugelangen. Die Apparatleute denken folglich, wenn sie über Ökonomie nachdenken, mit Vorliebe über die Produktionsverhältnisse nach, und ihr Primat ist das der Politik; die Spezialisten setzen dagegen das Primat der Ökonomie und denken an dieselbe hauptsächlich, indem sie sie als Problem der Entwicklung der Produktivkräfte erfassen. Apparat und Spezialisten verhalten sich also bei Hacks, wenn das prosaische Beispiel gestattet ist, wie ein Rennfahrer und sein technisches Team sich zueinander verhalten. Doch Apparatleute und Spezialisten müssen einander fremd bleiben; zum einen, weil Naturwissenschaftler und Ingenieure „einen anderen Denkapparat als Gesellschaftswissenschaftler haben“[29], zum anderen weil Apparat und Spezialisten notwendigerweise gegenläufige Prinzipien vertreten. Der Apparat bekämpft die Ungleichheit und strebt nach Gleichheit, die Spezialisten folgen dem Leistungsprinzip, schaffen also Ungleichheit. Der Sozialismus wieder ist bei Strafe des eigenen Untergangs beider Prinzipien bedürftig. Die Riesen nun auf ihrer Insel, wenn sie so ganz von Sittlichkeit durchdrungen sind, verkörpern das Prinzip des Apparats. Sie betrachten die Welt vornehmlich danach, wie sie eingerichtet sein soll, und das ist auch, was sie vor allem können. Das technische Wissen und Können besitzen sie von Natur aus nicht: „Das Sittliche“, sagt der Riesenkönig, „ist ihre Stärke … die Geschicklichkeit vielleicht in geringerem Maße“ (151).

Die Spezialisten, deren Eigenschaft mehr die Geschicklichkeit als das Sittliche ist, fehlen hingegen auf der Insel. Oder vielmehr: sie fehlen im Volk der Riesen. Folglich müßten sie, da sie gebraucht werden, hinzugeholt werden, und es ist, wie bereits festgehalten, Philibert, der als Spezialist auf der Insel tätig wird (152). Darf man so weit gehen, ihn als Verkörperung jener anderen Klasse im Hacksschen Modell zu nehmen? Teils. Dafür spricht, daß er, der kein Riese ist, auf der Insel weilt und ihr sein Spezialwissen zur Verfügung stellt, und es sei ein weiteres Mal an Hacksens Interpretation des »Marski« erinnert, in der das Spezialistentum als Gut des Bürgerlichen beschrieben wird, das sich in der entfalteten Gestalt des Sozialismus einer Aufnahme erfreut. Gegen diese Lesart aber spricht, daß das Verhältnis, d.h. der Widerspruch zwischen jenen gesellschaftlichen Gruppierungen, die Hacks als Klassen des Sozialismus auffaßt, auf der Insel nicht unmittelbar abgebildet ist, sondern, wie noch gezeigt wird, in abstrakter Form erscheint. Ebenfalls ist es durchaus denkbar, der Dichter könnte Philiberts Arbeit als „Bebaumer“ der Insel auch als Bild für die Tätigkeit des Künstlers genommen haben; der Schatten, den die Bäume spenden und an dem es auf der Insel fehlt (152), könnte für die Funktion der Kunst stehen, den Menschen Zerstreuung zu verschaffen und das gesellschaftliche Leben so zu bereichern. Ob Philibert beide Gruppen verkörpern könnte, ist natürlich die Frage. Zwar sind auch Künstler Spezialisten, aber eben keine, die am Produktionsprozeß einen Anteil haben, ganz abgesehen davon, daß die künstlerische Weise, sich der Welt zu nähern, von der Weise der Technokraten sehr verschieden ist und ihre gesellschaftliche Stellung ebenso ein andere.

Aber der Widerspruch der „sozialistischen Klassen“, sagten wir, sei dennoch abgebildet, auf abstrakte Weise. Und zwar im Bild von der Tektonik der Insel: „Da nämlich die Insel neu war, hatte sie eine Tektonik, das sind verdeckte Unstimmigkeiten in ihrer Kruste. Der Boden arbeitete noch. Jedesmal wenn der Boden arbeitete, schwankte die Insel, und es war stets mit Inselbeben zu rechnen, mindestens für die nächsten hundert Jahre. In ihrer Bekämpfung bestand die Staatskunst der Riesen“ (151). Man erkennt hierin sogleich die Theorie des „sozialistischen Absolutismus“ wieder, worunter die Auffassung zu verstehen ist, daß dem Sozialismus ein ähnlich konfiguriertes Kräfteverhältnis zugrunde liegt wie dem Absolutismus: „Wenn der alte Absolutismus dadurch gekennzeichnet war, daß der Fürst die ausgleichende und regelnde Macht über den sich hassenden herrschenden Klassen Adel und Bürgertum bildete und an der Fronde aus diesen sich hassenden Klassen litt, so bildete Ulbrichts sozialistischer Absolutismus die ausgleichende und regelnde Macht über der herrschenden sozialistischen Klasse der Intelligenz (Forscher, Planer, Leiter) und der herrschenden sozialistischen Klasse des Parteiapparats.“[30] Abstrakt ist das Bild von der Tektonik deshalb, weil die „verdeckte(n) Unstimmigkeiten“ nicht in der Gestalt erscheinen, in der sie abgebildet werden müßten: als Widerspruch unterschiedlich interessierter bzw. sozialisierter Gruppen. Aber die politischen Bewegungen, die das Verhältnis erzeugt, sind genau abgebildet: Der König der Riesen sitzt in einem Muschelturm, der in der Mitte der Insel errichtet wurde, und wenn „die Insel nach links schwankte, lehnte sich der König aus dem rechten Turmfenster. Schwankte sie nach rechts, lehnte er sich links hinaus. So blieb immer alles im Gleichgewicht“ (151). Hierin haben wir jene eben zitierte Politik der „ausgleichende(n) und regelnde(n) Macht“, die Hacks im Laufe der sechziger Jahre der DDR nicht nur beobachtet, sondern auch am eigenen Leib zu spüren bekam. Denn der Wechsel von Entspannung und Verschärfung der Politik, der im wesentlichen Reaktion auf Erstarken und Erschwachen von Parteiapparat und Wirtschaftsleitung war, äußerte sich nicht nur hinsichtlich der Wirtschaftspolitik – VI. Parteitag und NÖS (1963), VII. Parteitag und ÖSS (1967) –, sondern auch in der Kulturpolitik, für die vor allem das 11. Plenum des ZK der SED zu nennen wäre, auf dem auch Peter Hacks anläßlich seines Stücks »Moritz Tassow« kritisiert wurde.

Indes findet Philibert unter diesen Verhältnissen sein Glück. Das öffentliche – „jedesmal, wenn er an sein Land Ur zurückdachte, fühlte er das Glück des Entronnenseins und genoß sein Leben und fand nichts daran zu ändern“ (152) – wie auch das persönliche. Er verliebt sich in die Riesin Tiny, die wie alle Riesen sittlich und kraftvoll ist. Philiberts Bindung mit seiner Wahlheimat geht so auf zwei Ebenen, der öffentlichen und privaten, vor sich. Und wie er der Insel etwas Besonders zu geben hat, seine fachlichen Fähigkeiten als Baumpflanzer nämlich, so kann er Tiny etwas geben, das ihr neu ist: durch ihn entwickelt sie die Fähigkeit zum Genuß. Genuß, wie wir uns erinnern, war Hacks zufolge neben dem Spezialistentum das andere Gut, das das Bürgertum in den Sozialismus bringen und dieser in sich aufheben kann. Die Fähigkeit zum Genuß liegt nicht genuin im Sozialismus; er hatte es in dieser Hinsicht immer schwer. Er wurde gemacht von Leuten, die ihr Leben lang gekämpft, die Untergrund, Revolutionen, Exil und Weltkrieg erlebt hatten, und er, der Sozialismus, wurde zeit seiner Existenz die Bedingungen der Angestrengtheit, d.h. den Zwang, sich politisch und wirtschaftlich immer wieder aufs Neue reproduzieren zu müssen, nicht los. Hinzu kam schließlich der Kampf um die Köpfe der Menschen, in dem es natürlich auch nicht selten zu Überspitzungen und Fehlern kam. Und dennoch waren die sechziger Jahre ein Ort, an dem sich in der DDR tatsächlich so etwas wie eine eigentümliche Kultur und ein nationales Bewußtsein herausbildete, an dem auch Teile jener gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich nicht als sozialistisch verstanden, diesen Staat als ihren Staat aufzufassen begannen. Es gab mit einem Mal ein großes Bedürfnis, sich in diesem Staat einzurichten, und Zeichen dieses Bedürfnisses war neben vielen anderen auch der große Erfolg von Hacksens Stück »Der Frieden« (1963). Ein gewisser Teil dieses Erfolgs geht darauf zurück, daß es Ausdruck eines allgemeinen Bedürfnisses in der Bevölkerung der DDR war: „gleichzeitig stellt das Stück dar, wie groß das Bedürfnis der Griechen nach Frieden, also nach Spaß, Tanz, Gesang, Beischlaf, Saufereien und Freßgelagen, war, mithin nach schlichter Lebensfreude, und wie sehr sie darunter gelitten hatten, sie so lange entbehren zu müssen. Aber was die Griechen da fühlten – und erst recht, was Hacks sie da fühlen läßt –, fühlte und wollte das DDR-Publikum ebenfalls.“[31] Sozialist sein und Mensch sein, soll sich, wie Hacks mit Blick auf Langes »Marski« sagt, nicht ausschließen. Tiny, wenn sie bei Philibert den Genuß lernt und ihn sogleich auf ihre kraftvolle Weise auskostet, spricht auf riesische Weise aus, daß zwischen Genuß und Sittlichkeit kein ausschließender Widerspruch bestehen muß: „Was wir tun, ist sittlich, ich fühle es“ (153).

Der Umschlag ins Unglück tritt unvermittelt ein. Der König der Riesen fällt von einer Felsklippe, sein Nachfolger, der Hofzwerg Otto, besitzt weder das nötige Gewicht noch das Wissen, die Regierung im Muschelturm zu übernehmen. Die Insel, als sie wieder einmal schwankt, erhält durch Otto keinen Gewichtsausgleich, bricht entzwei und versinkt im Meer. Wenn der König der Riesen für Walter Ulbricht stehen darf, dann darf der Hofzwerg Otto wohl für Erich Honecker stehen. Indessen hat Hacks den König nur ganz allgemein mit den Merkmalen eines absoluten Herrschers, als welchen Hacks Ulbricht ja auffaßt, ausgestattet; die Beschreibung Ottos hingegen ist auch bis in die Einzelheiten charakteristisch für Honecker: Der Hofzwerg ist klein an Wuchs (155) und hat einen Sprachfehler: er verschluckt Silben (154). Von Bedeutung ist seine Art, mit Politik umzugehen. Philibert nennt ihn einen „Feind der Politik“ (155); Tiny sagt über seine politischen Entscheidungen: „Er nimmt die Sache rein menschlich“ (ebd.). Beide Aussagen zeigen Eigenheiten der Regierungsweise Erich Honeckers. Die Abneigung gegen die Politik kann ebenso für die kulturpolitische Linie der SED seit dem VIII. Parteitag genommen werden wie ganz allgemein für die Manier, der Lösung von gesellschaftlichen Widersprüchen aus dem Weg zu gehen. Das kam etwa zum Ausdruck in der Liquidierung des Neuen Ökonomischen Systems und der Schließung der damit verbundenen Forschungszentren, welche Maßnahmen aus keinem anderen Grund durchgesetzt wurden denn aus Angst vor den politischen Problemen, die ein gestärkter Stand von Spezialisten (Wirtschaftsleitern und Forschungsfachleuten) unweigerlich mit sich brachte, aber auch in der Anhäufung von Staatsschulden und der Senkung der Akkumulationsrate zugunsten der Konsumtion, was auch nichts anderes bedeutete, als daß man den unbequemen Weg scheuend auf den Pfad populistischer Beschwichtigung abglitt. Vielleicht steckte dahinter aber viel weniger Kalkül, als man vermuten müßte. Vielleicht war die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wirklich nichts anderes als der Ausdruck einer Politik, deren Urheber die Fragen des Staates „rein menschlich“ nahmen. Erhöhung von Sozialleistungen, Verstärkung des Konsums – das war menschlich gedacht, und niemand, dessen Seelenhaushalt ungestört ist, wird an solchen Vorhaben etwas auszusetzen haben. Wenn dergleichen allerdings auf nicht finanzierbarer Basis durchgesetzt wird, dann ist das nichts anderes als das Symptom einer rein menschlich genommen, im übrigen aber undurchdachten Politik. Bemerkenswert aber ist in diesem Zusammenhang: Otto hat eine „Partei“ (154). Er ist also keine singuläre Erscheinung, sondern die Spitze einer bestimmten politischen Richtung, was natürlich auch von Honecker galt, der gegen Ende der sechziger Jahre sogar allgemach die Mehrheit der Mitglieder des Politbüros auf seine Seite bringen konnte. Wie die Erzählung mitteilt, war der Hofzwerg Otto jedoch nicht in der Lage, den König ermordet haben zu können (154). Dafür fehlt es ihm an Gewicht. Und wie Honecker seit 1965 erhielt Otto, so stellt sich zum Ende der Erzählung heraus, Unterstützung aus dem Osten: Es war der Sturmkönig Eostro, der den Riesenkönig von der Felsklippe wehte (176), so wie es Breschnew war, ohne dessen Rückendeckung Honecker den Sturz Ulbrichts nicht gewagt hätte. Das Resultat all dessen ist denn auch folgerichtig der Untergang des neuen Staats, und auch hier ist die Abfolge der Ereignisse bezeichnend. Als der Staat wieder einmal wankt, diesmal nach rechts, lehnt sich Otto aus dem rechten Fenster. Er muß erst von den Riesen daran erinnert werden, daß er sich, wenn der Staat nach rechts wankt, aus dem linken Fenster lehnen muß. Dies verinnerlicht lehnt Otto sich aus dem linken Fenster. Doch auch nun, da er es richtig macht, tritt keine Besserung ein. Dem Zwerg Otto fehlt das nötige Gewicht, das er in die Waagschale werfen könnte (156). Otto also weiß nicht, wie man regiert, und selbst in dem Moment, da er es weiß, kann er es nicht. Das Resultat der ganzen Sache ist, daß es Philibert erst auf das Meer und dann, durch die Hilfe Eostros, in die Wüste verschlägt.

3.2 Die Oase Schönschein

Von der Wüste Mondo erfahren wir, daß sie die übelste Wüste der Welt sei (159f.). Mondo aber ins Deutsche übersetzt heißt: Welt. Die übelste Wüste der Welt wäre demnach die Welt. Inmitten der Wüste befindet sich die Oase Schönschein. Die Wissenschaft, die sich mit dem schönen Schein beschäftigt nennt sich Ästhetik, die Gegenstände des schönen Scheins nennt man Kunstwerke. Die Oase Schönschein wäre demnach das Reich der Kunst, umschlossen von der grausamsten und ödesten Wüste, die es gibt und die nichts anders ist als das grausame und öde Leben der wirklichen Welt. Die Oase entstand demgemäß an einer Wasserquelle, von der der Erzähler zu berichten weiß, daß sie „poetischer Herkunft“ (160) sei. Aber sie scheint nicht im hohen Sinne des Wortes für das Reich der Kunst zu stehen wie etwa die Provence in »Margarete in Aix«.[32] Sie ist von dieser Welt und scheint das Reich der Kunst eher im Sinne des sozialen Orts zu meinen: der Szene. Aber auch nicht der Szene schlechthin, sondern ziemlich genau jenes Geflechts aus personellen Bindungen und Institutionen, die den Kulturbetrieb der DDR ausgemacht haben. In der Oase Schönschein wird nichts anderes reflektiert als auf der Rieseninsel: Aufstieg, Blüte und Untergang der DDR, nur eben nicht im Aspekt des Politischen, sondern in Hinblick auf die Geschehnisse in der Gesellschaft der – wie man in der DDR zu sagen pflegte – Kulturschaffenden. Herausgearbeitet ist denn auch der Gegensatz zur Rieseninsel: „Nach so viel sittlicher Tüchtigkeit, wie er bei den Riesen erfahren hatte, tat es Philibert wohl, sich dem Schönen zu ergeben“ (162). Philibert lernt jetzt eine andere Seite des Lebens kennen, eine andere Weise, es anzupacken, und wiederum geht er die Bindung mit seiner neuen Heimat sowohl öffentlich als auch persönlich ein: Er lernt eine Halbjungfrau kennen, an der weniger das bemerkenswert ist, daß sie offenkundig keine Jungfrau mehr ist, als vielmehr dies, daß sie sich in zwei Hälften teilt, die in jeder Hinsicht getrennte Wege gehen: die obere Hälfte ist „unbeschreiblich verdorben“ (163), die untere „mild und betulich“ (164). Beide Hälften, da sie ja letztlich dieselbe Person sind, nehmen einander die Bindung zu Philibert nicht übel. Aber sie sind sich, da sie kein gemeinsames Gramm besitzen und folglich so verschieden sind, wie man nur sein kann, vollkommen gleichgültig (164). Gesetzt, dies Bild bedeutet was, dann scheint es wohl, im Angesicht des ästhetischen Orts, an dem die Fabel sich zuträgt, ein Sinnbild für die Kunst zu sein. Ist nicht die Einheit äußerster Gegensätze gerade das Tagesgeschäft des Künstlers? Läßt sich nicht die Milde der unteren Hälfte und die Verdorbenheit der oberen Hälfte zusammen als das lesen, was Peter Hacks, dem Ausdruck Thomas Manns folgend, „Kühnheit im Schicklichen“ nannte, das zugleich, bei aller Verschiedenheit im Schreibtemperament dieser beiden Dichter, sein eigenes ästhetisches Credo und stilistisches Merkmal wurde und von dem er bereits 1949 behauptete, „daß es Klassik sei“?[33]Denn wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten Klang. Nichts fällt dem Genie schwerer als Einseitigkeit, und nicht ganz zufällig also sagt Philibert, als man ihm nahelegt, sich für eine der beiden Damen zu entscheiden: „Es ist mir nicht gegeben, mich zu entscheiden“ (164).

Doch auf die Oase Schönschein legt sich auch ein anderes Licht. Der Erzähler erspart uns nicht, ihre Entstehungsgeschichte zu schildern (161f.), die sich lange vor Philiberts Eintreffen dort zutrug. Alles beginnt mit einem seltsamen Seeräuber namens Jogoff, ein Mann vom Typ Robin Hoods, „grausam aus Güte und ein Pirat aus uneigennützigen Gründen“ (161). Seine Seele war offenkundig geteilt: er hat „den Kopf voller hoher Ideale“ und „das Herz voll Blutwurst“, doch er „hatte seine Laune darauf versteift, sich der Perlenfischer und Schwammtaucher anzunehmen“ (ebd.). Dieser Jogoff nun ist der „Stammvater der Äfferlinge“ (162), die Äfferlinge wieder sind die Bewohner der Oase Schönschein. Wer aber wäre der Stammvater der Künstler der DDR, wenn nicht Bertolt Brecht? Bereits der Seeräubertopos weist auf Brecht hin. Jogoffs Lust, „sich der Perlenfischer und Schwammtaucher anzunehmen“, läßt sich durchaus als Analogie der Brechtschen Biographie lesen: dessen Hinwendung zum Proletariat und zum Marxismus gegen Ende der zwanziger Jahre nämlich. Der merkwürdige Widerspruch zwischen Herz und Hirn in Jogoffs Seelenhaushalt kann vielleicht genommen werden als Bild für jene merkwürdige Mischung sinnlich-materieller und streng idealer Elemente, wie sie für Brechts Denken kennzeichnend ist. Romantisch, ja übersteigert subjektiv sind etwa Brechts Revolutionskonzept, das, was immer man zu seinen Gunsten vorbringen kann, stets eine Spur mehr am Weg als am Ziel interessiert war, sein immer wieder durchbrechender Nichtrealismus, der ihn zu Äußerungen verführte wie der von der „Weisheit des Volks“ oder seine merkwürdig überpolitisierte und von eigentümlich ästhetischen Fragen befreite Ästhetik. Zugleich zeigt sich in all dem auch eine stete Unzufriedenheit mit der Eingerichtetheit der Welt, eine übermäßige Lust an der Negation, eine häufige Tendenz, wider das Vortreffliche zu reden und Erreichtes umzustürzen. Wenn Jogoff zugleich Idealist und Barbar ist, dann zeigt sich darin nichts anderes als der romantische Zug, dessen die revolutionäre Haltung nie ganz entraten kann. Jogoff jedenfalls wird, wie Brecht übrigens, von der Obrigkeit ins Exil getrieben und landet auf diese Weise in der Oase Schönschein. Dort gibt er nach einigem Widerstand den sexuellen Annäherungsversuchen der ortsansässigen Affenweibchen nach und zeugt mit diesen das Geschlecht der Äfferlinge. Dieses ist somit „eine Kreuzung aus Weltverbesserer und Affe“ (162) und bewohnt die Oase, als Philibert dortselbst eintrifft. Dem Faden der Interpretation weiter zu folgen, beschriebe das Geschlecht der von Jogoff stammenden Äfferlinge, enger ausgelegt, die Schar der Schüler und Epigonen im Verhältnis zu ihrem Meister Brecht. Jogoff hat hohe Ideen und ist ein Mensch, besitzt also sittliches Vermögen. Die Äfferlinge haben ebenfalls hohe Ideen, sind aber affenstämmig, also dünkelhaft, weniger standhaft und schwächlicher. Brecht unterschied sich von denen, die ihn umgaben oder sich seine Ideen später zueigen machten, darin, daß er, dessen Ideen zwar zur Hälfte romantisch waren, dem Überhandnehmen dieser romantischen Seite immer wirksamen Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Auch wenn eine gewisse Neigung zur Revolutionsromantik sein politisches Urteil gelegentlich trüben konnte, ist er doch nie auf das politische Niveau eines – um wenigstens die Bedeutenden seines Clans namentlich zu nennen – Hanns Eisler oder Wolfgang Harich gesunken.

Natürlich läßt sich der Fall Jogoff auch exemplarisch lesen; wie ja der Fall Brecht ebenfalls exemplarisch ist. Wenn wir das Niveau der Lesart also etwas heben, dann steht Jogoff nicht mehr nur für Bertolt Brecht und den engen Zeitabschnitt der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern überhaupt für das jakobinische bzw. linke Erbe des Sozialismus. So schreibt Jogoff z.B., um sich von den Annäherungen der Affenweibchen abzulenken, drei Bücher, und hält es damit, wie Goethe es mit seinen »Werther« gehalten hat: er schreibt, um nicht handeln zu müssen. Die Titel der Werke lauten: „Das Ich als Tatsache“, „Das Ich als tätige Sache“ und das „Das Ich als tätliche Sache“ (162). In dieser Reihenfolge lassen sie sich gut lesen als Genese des linken Radikalismus, wie er sich insbesondere im deutschen Sprachraum entwickelt hat. Der Ursprung der Linken liegt im Subjektiven, in der Entrüstung über den Zustand der Welt; der Inhalt dieser Haltung – ob sie nun Sturm und Drang oder revolutionäre Haltung genannt wird – ist, die Welt in Frage zu stellen, und zwar indem man sie an den Bedürfnissen des menschlichen Subjektes, vorzugsweise des eigenen, mißt. Wenn aus dem Sturm und Drang Klassik werden konnte und aus der revolutionären Haltung eine – wieso eigentlich gibt es hierfür keinen eigenen Begriff? – postrevolutionäre, die den Staat bzw. allgemein Autorität anerkennt, dann ergab sich das sicher nicht von selbst, sondern war erarbeitet. Klassik heißt, nach den Bedingungen der Weltverbesserung fragen, und das ist um vieles schwerer als das fortgesetzte Schleudern geistiger oder materieller Brandsätze. Die Geschichte der sozialistischen Bewegung ist immer auch eine Geschichte der Emanzipation von ihrer Kinderkrankheit, dem linken Radikalismus. Der wieder ist freilich älter als die sozialistische Bewegung, worauf die drei Buchtitel dann auch verweisen. Ihre Abfolge, sagten wir eben, verkörpert die Genese des linken Geistes in Stufen: Die erste, „Das Ich als Tatsache“; das ist natürlich Fichte. Er war vielleicht nicht der erste Linksradikale der deutschen Geschichte, aber doch der erste, der dem linken Radikalismus eine philosophische Form gab. Als Romantiker war er natürlich Staatsfeind und zumindest doch ein Unfreund der Vernunft.[34] Die zweite, „Das Ich als tätige Sache“; worin wir sogleich den jungen Marx (1844-1847) erkennen. Eine Mischung aus Fehlinterpretation der Hegelschen »Phänomenologie des Geistes« und Mißachtung des reinen Theoriecharakters der Philosophie führte zur Überbetonung des Praxisbegriffs. Marx unterscheidet sich von Leuten wie Bauer, Feuerbach und Stirner darin, daß er den Idealismus der Jugendjahre später an den Nagel zu hängen vermochte.[35] Die dritte schließlich, „Das Ich als tätliche Sache“; worin wir den Umschlag des linken Unsinns ins Gemeingefährliche wiedererkennen. Wenn der linke Radikalismus nie ein Zeichen besonderer Tiefgründigkeit oder Urteilssicherheit war, so schlägt er im 20. Jahrhundert in den offenen Terrorismus um: das gilt für Maos Kulturrevolution in gleicher Weise wie für ihr westliches Äquivalent, die Achtundsechziger Bewegung, und dessen Kind, die RAF.[36] All das steckt in den Wurzeln der Oase Schönschein und drückt sich in ihr aus. Und es ist folgerichtig. Die linke Haltung, da sie einmal so bedeutsam für sein Entstehen war, schlug sich natürlich auch in der Kunst, im Denken, insbesondere in der Ideologie des Sozialismus nieder. Ideologie, das ist nur akzidentiell das Erfassen von Wirklichkeitsstrukturen, in der Hauptsache ist sie Ausdruck der Bedürfnisse derjenigen, die sie besitzen. Von den absolutistischen Strukturen, die Hacks in der DDR als gegeben annahm und die wir auf der Insel der Riesen wiedererkannt haben, ist in der Oase keine Spur. Der Ort Schönschein reflektiert den Geisteszustand des Künstlerstandes, also desjenigen Teils des Kleinbürgertums, dessen Vermögen, sich Gehör zu verschaffen und dessen Fähigkeit somit, das Denken anderer zu beeinflussen, am größten ist. Anders als Hacks haben die meisten seiner Kollegen, wenn sie es überhaupt bemerkten und nicht vorzogen, das Wunschbild, das sie sich von der Wirklichkeit gemacht hatten, für die Wirklichkeit zu halten, nie akzeptiert, daß der Sozialismus auch eine autoritäre Seite hat. Sie blieben revolutionär, jakobinisch, demokratisch gesinnt; links eben. Insofern ist der Fall Brechts und seiner Schüler zwar exemplarisch und wohl auch deswegen vom Dichter so stark angedeutet, aber dennoch geht die ganze Jogoff-Fabel in ihrer Bedeutung über diesen Fall hinaus und besitzt durchaus Allgemeingültigkeit.

Doch noch ein weiterer Blick auf die Oase tut not. Das erste, was hierbei auffällt, sind die Kaffeehäuser (160, 162). Kaffeehäuser, man weiß es, sind bei Hacks eine Chiffre für das Milieu der Romantiker. Ist es möglich, die gesamte Oase als Ort der Romantiker zu lesen? Es scheint so. All das, was man von Hacks her kennt – das klassische Kunstideal, das ernsthafte Nachdenken über Kunst, die Bemühungen im Kampf der Richtungen – fehlt in der Oase vollkommen. Es ist, als hätte der Dichter sich selbst aus der Widerspiegelung der Gesellschaft, in der auch er lebte, ausgeschlossen. Allenfalls kommt er vor, worin er ohnehin vorkommt, in Philibert. Doch hier mehr als Beobachter, denn als Beteiligter. Philibert nämlich ist weder Äfferling noch Künstler. Die Äfferlinge sind ihm im Grunde wesensfremd, man erfährt, daß ihm “das Äffische abging“ (163). Exemplarisch für die Art, in der Oase Schönschein Kunst zu machen, wird sodann vorgeführt der Fall eines Tonsetzers, der sich die Trommelfelle durchstochen hat, um unbeeinträchtigt vom Urteil seines Gehörs komponieren zu können. Er erzeugt grauenhafte Töne, und ein anderer Äfferling erklärt Philibert darauf: „Als er erkannte, daß er außerstande sein würde, Töne von solcher Neuartigkeit und Kühnheit zu erfinden, wenn er selbst sie würde anhören müssen, ist er lieber freiwillig ertaubt, als daß er abgelassen hätte, die Töne hervorzubringen“ (160f.). Natürlich ist das ein Fall von Romantik, deren Kennzeichen ja die Liquidation des Publikums, also des Anspruchs auf Genießbarkeit der Kunstwerke ist. Über das Verhältnis von Romantik und Klassik schreibt Hacks, beide „untersuchen, mit Ernst, das Verhältnis ihrer Zeit zu ihrer Kunst … Jene, inwieweit die Zeit zur Kunst, diese, inwieweit die Kunst zur Zeit paßt.“[37]

Dennoch läßt sich die Lesart von der Oase, die schlechthin für das Romantische stehe, nicht vollständig durchhalten. Das wird in der Erzählung in dem Moment offenkundig, da die „Ewigen Drei“ (165ff.) ins Spiel kommen. In denen erkennen wir sogleich wieder: erstens, im „Dichter-der-in-seiner-Jugend-was-gedichtet-haben-sollte“ Stephan Hermlin; zweitens, in der „Tränenfeuchte(n)“ Christa Wolf; drittens, in der „Wiedergeburt“ Heiner Müller.[38] Dreie also, die Hacks unter die Häupter der romantischen Schule innerhalb der DDR zu rechnen pflegte. Vom Geschlecht der Äfferlinge wird hingegen gesagt, daß es „dreist und aufgeregt, aber alles in allem harmlos“ sei (165). Dagegen leben die Ewigen Drei „auf dem Bodengeschoß eines Hinterhauses“ und leiden an einer ansteckenden Krankheit, weswegen sie von allen gemieden werden. Das Romantische, wie man seit Goethe weiß, ist das Kranke, und der Erreger jener Krankheit wurde, wie Philibert lange Zeit später erfährt, in Ur hergestellt (177). Wir hätten also mindestens eine Unterscheidung zwischen harmloser und verderblicher Romantik. Die harmlose Romantik stünde demnach einfach für die große Zahl jener Künstler, die ganz besonders die Anfangszeit der DDR-Kunst prägten. Die Absicht, das Neue der Zeit auf die Bühne bringen, schlägt allzuleicht in eine Sorte Kunst um, die zwar neu, aber nicht genießbar ist. Das ist im Kern romantisch, so wie das Aufklärerische eben immer seine romantische Seite hat. Die veritable Romantik dagegen ist von ernsterer Natur. Sie ist, Hacks zufolge, nicht Kinderkrankheit, sondern Alterserscheinung: „Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen.“[39] So zeitigt denn auch die Krankheit der Ewigen Drei äußerst unangenehme Folgen, und man erkennt durchaus die Diagnosen wieder, die Hacks in seinen Romantik-Schriften stellt: zunächst stellen sich eine starke Müdigkeit und Lust an traurigen Gegenständen ein; es folgt die Einstellung jeglicher Arbeit; das Endstadium ist begleitet von großer Aggressivität und dem Drang, durch Bisse zu töten; das Ende der Krankheit ist der Tod (168).

Obgleich es in der Oase im Vergleich zur Rieseninsel an Größe und Bedeutsamkeit fehlt und ihre Blüte, im Gegensatz zur Blüte jener, durchaus eine gewisse Verwandtschaft zu ihrem Verfall aufweist, erfolgt der Umschlag in den Niedergang unvermittelt und von außen. Im Fall der Oase ist es die Gräfin Pappel selbst, die als Verderberin in Erscheinung tritt: sie führt, nachdem sie eine Nacht zuvor bereits einen mißlungenen Mordversuch an der oberen Hälfte der Halbjungfrau verübt hat (164f., 176), die Ewigen Drei in die Öffentlichkeit (166), wodurch sich ihr Ansehen unter den Äfferlingen ändert (167). Infolgedessen verkehren diese mit ihnen und stecken sich an der tödlichen Krankheit an. Die Oase, folglich, geht zugrunde, und Philibert muß wieder fliehen.

3.3 Der Berg Teltow

Eine Insel, eine Oase, ein Berg: die Ortschaften, wie wir schon sagten, liegen immer singulär. Sie sind nie verbunden mit ähnlich Geartetem, sondern ausnahmslos von Fremdem, ja Feindlichem umgeben: Die Rieseninsel von Wasser, die Oase Schönschein von der Wüste, der Berg Teltow von beidem (168). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Namenswahl. Teltow ist der Name eines Ortes in Brandenburg, der südwestlich von Berlin liegt und vor 1990 direkt, ohne daß weiteres Land dazwischen gelegen hätte, an West-Berlin grenzte. Die Ortsgrenze Teltows war zugleich der Eiserne Vorhang zwischen den zwei Weltsystemen, der in diesem Landstrich in Gestalt der Berliner Mauer erschien.

Bevor Philibert den Berg Teltow erreicht, läßt der Erzähler ihn, von der Oase Schönschein aus, durch die Wüste marschieren. Vielleicht nicht ganz zufällig dauert der Marsch genau vierzig Tage (168). Weniger aber, weil die Zahl 40 an die Jahresdauer der DDR erinnert, sondern wahrscheinlich in Anspielung auf das Matthäus-Evangelium, worin Jesus Christus vierzig Tage in der Wüste zubringt (Mt. 4). Jesus wird in der Wüste vom Teufel in Versuchung geführt, seine Macht als Sohn Gottes zu erproben, und – widersteht der Versuchung. Der Widerstand gegen die Versuchung kann vielleicht als eines der Hauptmotive der »Gräfin Pappel« betrachtet werden. Alle Analogien haben freilich ihre Grenzen, aber auch Philibert nimmt eine Vielzahl von Unannehmlichkeiten auf sich, um dem gewiß viel leichteren und weniger bedrohlichen Leben an der Seite der Pappel zu entgehen. Nicht zufällig scheint Hacks denn auch bald nach der Niederlassung Philiberts am Berg Teltow das Entsagungsmotiv anklingen zu lassen: Die Bewohner, mit denen Philibert zusammenlebt, sind mürrische Leute und schweigsam, was Philibert, das „Geschnatter der Äfferlinge noch im Ohr“, gefällt; er genießt die Ruhe und sagt: „Es ist nicht möglich, vom Geschick noch weniger zu verlangen“ und fühlt dort, „in der Entsagung glücklich zu sein“ (169).

Die Lebensweise, die am Berg Teltow vorherrscht, ist wiederum von der der Rieseninsel und der der Oase Schönschein verschieden. Nachdem wir auf der Rieseninsel die politische Lebensweise und in der Oase Schönschein die der Künstler erlebt haben, scheinen wir hier die Lebensweise von Produzenten zu erleben. Vorherrscht die Arbeit. Der Teltow wird von Bauern bewohnt, die Rüben anpflanzen: Teltower Rübchen, berühmten Namens. Die Bauern aber sind nicht allgemein Arbeiter, sie sind Spezialisten: „Sie kümmerten sich um ihre Rüben und die Mathematik“ (196). Also gehören sie der Intelligenz an, doch auch keineswegs der Intelligenz schlechthin. Von Gegenständen wie Sprache, Philosophie oder Weltliteratur ist bei ihnen nicht die Rede. Es geht um Naturwissenschaft, und auch um die vornehmlich, insofern sie der Herstellung der Rüben dient: „Sie hatten nicht nur den Inhalt der Kugel aus ihrem Durchmesser errechnet, sondern auch den der Rübe … Von ihnen stammt die gesamte Lehre von den Rübenschnitten“ (ebd.). Die Bauern stehen demnach für die technische Intelligenz, ohne die die moderne Industrieproduktion nicht durchführbar ist. Sie sind Fachleute, Ingenieure, und wir sehen also im Berg Teltow die DDR im wirtschaftlichen Aspekt verkörpert, wobei hierunter weniger eine Beleuchtung der Produktionsverhältnisse zu verstehen ist als vielmehr des Produktionsprozesses, wie er sich faktisch vollzieht: Produktion, Produktivkräfte, Produzenten. Die technische Intelligenz gehört jener sozialen Gruppe an, die Hacks selbst als „Spezialistenklasse“[40] bezeichnete und worunter er die „Forscher, Planer, Leiter“[41] des Produktionsprozesses verstand. Kann man die Rübenbauern als Verkörperung dieser Klasse der Spezialisten nehmen? Mit einer Einschränkung, die wir auch im Fall der Rieseninsel geltend machen mußten. Wenngleich die Rübenbauern offenkundig die Spezialistenklasse zu bedeuten haben, treten sie in der Erzählung nicht als Klasse auf; diejenige soziale Gruppe, die im Hacksschen Modell ihren Kontrapost bildet, der Parteiapparat, fehlt am Berg Teltow, und es scheint – da von einer Klasse sich nur sprechen läßt, wo auch eine andere Klasse vorhanden ist – also eher um das Phänomen selbst zu gehen als um die Rolle, die es im gesellschaftlichen Nexus des DDR-Sozialismus gespielt hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß es am Berg Teltow keine Politik zu geben scheint. Politik nämlich ist nicht das, worauf die technischen Fachleute sich naturgemäß verstehen. „Niemand“, läßt Hacks den Parteisekretär einer Brikettfabrik sagen, „ist so einfältig wie Ingenieure, sehen überall Räder“.[42] Wenn also von den Riesen gesagt wurde, daß sie viel Sittlichkeit und wenig Geschick besaßen, dann läßt sich von den Bauern, die viel Geschick besitzen, zumindest doch sagen, daß das Sittliche nicht ihre höchsteigene Sache ist.[43]

Aber die Bauern leben nicht allein am Berg Teltow. Unweit, in einem Borkenhaus lebt ein Klausner mit seiner Tochter. Offenkundig wurzelt er nicht genuin in dieser Welt. Er gehört nicht mehr zu den Bauern, als Philibert zu ihnen gehört und zu den Äfferlingen oder den Riesen gehört hat. Man lebt zusammen, aber man ist nicht aus gleichem Guß. Es ist eher ein Leben-und-leben-lassen: „Die Rübenbauern hörten nicht auf zu brummen, aber sie gewöhnten sich an seine [Philiberts – FB] Anwesenheit, wie sie sich mit der Anwesenheit des Klausners abgefunden hatten“ (173). Wer nun ist dieser Klausner, wofür steht er? Er lebt „als Backwoodsman“ am Berg Teltow für das „Studium der vernünftigen Meinungen, welche die Griechen, die Engländer und gewisse Deutsche der Menschheit hinterlassen haben“ (169). In ihm haben wir also den Typus des Intellektuellen, den wir in den Rübenbauern gerade nicht haben: den Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaftler. Er sammelt Meinungen, das heißt: sein Wissen ist philosophisches Wissen. Doch zu jenem Typus zählt so ziemlich jede Disziplin der Wissenschaft, in deren Gegenstand Geist wohnt und die man infolgedessen nicht kollektiv betreiben kann. Die Einsamkeit des Klausnerlebens stünde demnach für das Erfordernis seines Berufs. Die großen Leistungen in der Philosophie, Geschichts- oder Gesellschaftswissenschaft, in der Linguistik, der ästhetischen Theorie oder der Religionswissenschaft sind bislang noch immer von Einzelnen, von Koryphäen vollbracht worden.[44] Warum aber taucht dieser Typus gerade hier, am Berg Teltow auf? Die philosophische Intelligenz hat mit der technischen nicht mehr zu schaffen als mit dem Parteiapparat oder den Künstlern. In vieler Hinsicht steht sie diesen sogar näher als jener. Die Antwort führt zu einer weiteren Lesart.

Der Klausner scheint nicht ausschließlich jenen Typus des unentbehrlichen und notwendig einzelnen Intellektuellen zu meinen, sondern auch eine Reflexion aus Hacksens persönlicher Lebenslage zu sein, wie sie sich gerade in der letzten Phase der DDR ergeben hat. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, scheint es kaum zufällig, daß Hacks, wenn er wo siedelt, es am Berg Teltow und nicht auf der Insel der Riesen oder der Oase Schönschein tut. Obwohl es nur schwer an unstrittigen Tatsachen festzumachen ist, scheinen die drei neuen Welten auch eine Art zeitliche Ordnung zu bilden. Sie verkörpern also nicht nur jene drei Hinsichten der DDR – Politik, Kunst, Wirtschaft – und deren Werden, sondern auch insgesamt in ihrer Anordnung das Werden der DDR. Es scheint nämlich, obgleich auch ihre Blüte und ihr Untergang beschrieben sind, der Akzent in der Erzählung der Rieseninsel, also das, was in ihr besonders betont ist, deutlich auf ihrer Entstehung zu liegen. Vorherrschend ist ein ungeheurer Optimismus, typisch für Perioden des Aufstiegs. Der Akzent in der Erzählung der Oase scheint dagegen eher auf ihrer Blüte zu liegen, genauer: auf jener Phase der Unentschiedenheit zwischen Blüte und beginnendem Fall – ihre Gründung, ihren Aufstieg erleben wir nicht mit. Vorherrschend ist ein Dahinplätschern des Lebens; dieses scheint überhaupt keine Tendenz zu haben, Optimismus fehlt ebenso wie Tragik. Der Akzent in der Erzählung des Bergs Teltow schließlich liegt offenkundig auf dem Untergang dieser Welt. Wir erleben keinerlei Entwicklung dieser Welt, und ob sie gleich als mehr oder minder funktionierende Gemeinschaft beschrieben ist, so scheint sie doch dem Angenehmen der Oase Schönschein kaum, der Bedeutsamkeit und Zuversicht der Insel der Riesen im geringsten nicht gleichzukommen. Vorherrschend in ihr ist die Ruhe, die Abwesenheit jeglicher gesellschaftlichen Bewegung, und nur die seltsam rüstige Natur der Rübenbauern macht unmöglich, von gesellschaftlicher Depression zu sprechen. So sehr die drei Welten also Aspekte derselben Sache vertreten, so sehr scheinen sie auch in ihrer Abfolge Aufstieg, Blüte und Fall der DDR zu verkörpern, und damit auch eine Art biographische Abfolge für das Leben des Dichters zu geben. Der Berg Teltow steht demnach der gesellschaftlichen Situation der achtziger Jahre der DDR am nächsten. Die Nischengesellschaft, ein Schlagwort für diese Zeit, finden wir denn auch am Berg Teltow abgebildet.[45] Für Hacks persönlich ist diese Zeit vor allem geprägt durch sein Leben auf der Fenne. Sie, zunächst die Erfüllung des bekannten und allgemein geteilten Strebens nach einem Tuskulum, wurde für ihn auch eine Art Exil: „Hab ein Häuschen an der Spree, / Eines in der Heide. / Eins, wenn ich zu Cäsar geh, / Eins, wenn ich ihn meide.“[46] In seinem Voltaire-Essay, der zugleich eine Art Autobiographie ist, finden sich ebenfalls höchst aufschlußreiche Stellen: „Voltaire … wird die Mittel haben, als Endhaltestelle seines Abstiegs vom Nationalpoeten zum Emigranten auf Lebensdauer Ferney zu erwerben, ein kleines Fürstentum. Ist Verbannung überhaupt eine Strafe? Ist sie nicht eher ein Geschenk? Die Arbeitsruhe im Wohlstand auf dem Lande, kommt sie nicht manchen Künstlern als Gnade vor? Wie schmerzlich ist es, wie groß war die Strafe der Verbannung? Für Voltaire war es die Höchststrafe.“[47] Und: „Voltaire empfindet die Verbannung als unerträglich, und er weiß ihre Vorzüge gar nicht begeistert genug zu schildern.“[48] Der Rückzug, welche Gründe er sonst gehabt haben mag, wurde beschleunigt durch die allgemeine gesellschaftliche Lage, an der Hacks aus bekannten Gründen kein Vergnügen hatte. Kurzum, im Klausner begegnet Hacksens anderes Selbst Philibert seinem anderen Selbst: Hacks. So bekommt denn auch die Rede, die Philibert auf der Beerdigung des Klausners hält, eine besondere Note: „Ich habe“, bekennt er, „in meinem Leben zwei Männer bewundert … den König der Riesen und den Backwoodsman“ (173).

Dessen Tochter repräsentiert wiederum das Eigentümliche der Welt, in der sie lebt: Gelehrtheit (170f.). Und Philibert, indem er mit ihr eine Bindung eingeht, vollzieht wiederum die Bindung mit der neuen Welt öffentlich und persönlich. Die Tochter schlägt nach der Art ihres Vaters; sie teilt mit ihm auch eine gewisse Weltfremdheit. Dennoch dürfen wir von des Klausners Lebenshaltung vielleicht annehmen, daß er bei aller Verschrobenheit, die sein Auftreten vermittelt, eine kräftige Portion praktischer Vernunft und Lebenserfahrung zur Verfügung hat. Das gilt von seiner Tochter nicht. Sie zeigt sich in den Dingen des Lebens vollkommen unbeholfen. Folglich ist sie – einmal vorausgesetzt, wir können die Liebe als Metapher für das Leben nehmen –, als das Gefühl der Liebe zu Philibert von ihr Besitz nimmt, diesem Affekt restlos aufgeliefert (171f.). Sie scheint aber auch in Hinblick auf die Wissenschaft von ihrem Vater verschieden zu sein: Mehr Famula als geistige Gefährtin dient sie ihm bei seinen Tätigkeiten. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, aber man müßte sie eher als klug denn als weise bezeichnen. Beides greift ineinander. Weisheit, d.h. philosophische Gelehrtheit, bedarf (anders übrigens als die naturwissenschaftliche Gelehrtheit) genauso der Lebenserfahrung wie die praktische Vernunft. Die Tochter des Klausners ist in beidem nicht frei von Fehlern: „In den Wissenschaften hatte sie keinen Witz verstanden. In der Liebe verstand sie keinen Ernst“ (172). Die Erkenntnis, daß es sich in Extremen nicht gut lebt, gehört durchaus in den Hacksschen Katechismus: „Das Extrem ist ja eben das Auswuchern eines Gedankens oder einer Handlung, welches über These oder Gegenthese hinaus und ins nur Unfruchtbare führt, aus dem Extrem erwächst nichts, schon gar kein Umschlag. Man muß die Mitte zwischen den Extremen nicht finden, sie stellt sich von selbst her. Der Punkt, wo die Extreme sich touchieren, die Gemeinsamkeit alles Falschen, das ist das schlechthin Abwegige“[49] Spaß und Ernst, wenn sie als reine Haltungen, also unter Ausschluß des anderen, auftreten, führen in das Gegenteil dessen, das sie bewirken sollen. Das gilt vom Denken ebenso wie vom Leben, und folglich, was letzteres angeht, erhält die Liebesbeziehung zwischen Philibert und der Tochter des Klausners einen ernsten Riß (172f.).

Auch der Berg Teltow, Philiberts dritte Wahlheimat, ist nicht ohne Feinde und muß schließlich untergehen. Der Vorbote des Untergangs ist die Ermordung des Klausners und seiner Tochter (173). Hinter der Ermordung steckt, wie Philibert später erfährt (176), der Sturmkönig Eostro. Instrument des Mordes ist eine abgestorbene Pappel: „Die Pappel war seit siebzig Jahren tot“ (172). Es ist natürlich eine Pappel, die den Backwoodsman erschlägt, und was ihr Alter angeht, so scheint die Wahl der Zahl nicht ganz zufällig zu sein. Wenn die Gräfin Pappel, wie wir am Anfang gezeigt haben, für das kapitalistische Bürgertum des 20. Jahrhunderts steht, dann ist es folgerichtig, daß sie in der neuen Welt, die für den Sozialismus steht, abgestorben ist. Wenn man dem Jahr 1917, worin der Sozialismus begründet wurde, siebzig Jahre zurechnet, erhält man das Jahr 1987. Dieses Jahr, abgesehen davon, daß es eines der letzten war, in dem der Sozialismus existierte und also gut in den Kontext paßte, ist zugleich jene Zeit, in der die Reform-Politik Michail Gorbatschows ihren wirklichen Charakter zu zeigen begann.[50] In der Erzählung folgt das Ende des Bergs Teltow bald. Hatte die Gräfin Pappel am Untergang der Rieseninsel keinen aktiven Anteil und spielte sie in der Oase immerhin die Rolle des Auslösers, so erscheint sie hier, am Berg Teltow, als direkte Vernichterin der neuen Gesellschaft: sie befehligt den Angriff der Kriegsflotte von Ur (174). Da am Berg Teltow, wie wir oben festgehalten haben, das Politische vollends fehlt, stellt sich der Untergang dieser Welt ökonomisch dar: als Krieg unterschiedlicher Agrikulturen. Von den Pappeln weiß der Leser durch das bis dorthin Erzählte, daß sie aggressive Gewächse sind, die das Bestreben haben, sich auszubreiten und andere Flora zu verdrängen. Die fliegenden Pappelsamen tun nichts anders. Sie graben sich, sobald sie in Kontakt mit dem Boden kommen, in ihn ein und vernichten wuchernd die Rübenkultur (174). Die Bauern kämpfen tapfer dagegen an. Sie erkennen die Pappeln als Bedrohung für ihre Rübenzucht, womit gezeigt ist, daß das Ende des Sozialismus nicht im Interesse der Wirtschaftsfachleute liegen konnte.[51] Welcher Produzent wäre nicht an gedeihlicher Produktion interessiert? Folglich kommentiert der Erzähler die Tatsache, daß die Bauern sich im Angesicht ihrer hoffnungslosen Lage der Gräfin Pappel unterwerfen, mit Verständnis: „Sie verfuhren nach dem Gebot ihrer makellosen Vernunft. Sie huldigten der Schönheit ihrer Feindin und vor allem ihrer Tugend … und sie unterstellten den Berg Teltow ihrer Grafschaft“ (175). Bemerkenswert ist, daß der Erzähler, dessen Parteinahme für Philibert nicht zu überlesen ist, dieses Verständnis für die Bauern aufbringt. Ihr Verhalten steht dem Philiberts, der selbst im Salamandermeer, am äußersten Rand der Welt angekommen, Widerstand üben und weiter flüchten wird, diametral entgegen. Wenn das Verhalten der Bauern als Ausdruck ihrer „makellosen Vernunft“ bezeichnet wird, dann zeugt das immerhin davon, daß Peter Hacks, dessen Haltung in Philiberts Haltung zum Ausdruck kommt, seine Weise, mit der Welt zu verfahren zwar vorzieht, sie aber nicht für die einzig mögliche hält. Wenn er sich seine Haltung leisten kann, aber er ist nicht töricht genug, dergleichen von jedermann zu erwarten. Anpassung, steht da, ist nur bei starken Menschen ein Fehler, für die Schwachen ist sie ein Mittel des Überlebens.

  1. Der Untergang des Reichs Eostro

Philibert sagt über den Backwoodsman und den Riesenkönig: „Beide wurden von einem jähen, gewaltsamen und grundlosen Mißgeschick dahingerafft“ (173). Die Ursache ihres Todes ist ihm unklar, sie erscheint ihm als Niedertracht des Zufalls. Aber er fragt sich, was es damit auf sich hat. „Ich erzähle“, sagt er zu Allan Gagelbusch, „Ihnen meine Geschichte in der Hoffnung, sie zu verstehen … Indem ich mir vergegenwärtige, daß sie sich ereignet hat, rede ich mir ein, daß es eine Erklärung für sie gibt. Denn alles, was sich ereignet, läßt sich erklären“ (158). Was sich herausstellt, ist schließlich dies: Eostro, der König jenes großen Reichs, in das Philibert vor der Gräfin Pappel geflohen ist, hat in Wirklichkeit – seit wann, ist nicht genau angegeben – für die Gräfin Pappel gearbeitet (176f.). Der Untergang seines eigenen Reiches war sein Werk und ihr Auftrag.

Wer ist Eostro? Wir haben ihn oben die Verkörperung der sozialistischen Welthälfte genannt, den Inbegriff der sozialistischen Führung, die Einheit geschichtlicher Produktivkraft mit ihrer politischen Form und was an solch hochgreifenden Vokabeln mehr ist. Nun entpuppt er sich als schnöder Verräter. Sein eindrucksvoller Kampf gegen die Gräfin Pappel, worin der „Gegensatz von Stillstand und Bewegung“ (157) vorgeführt sein sollte, erweist sich – man weiß es, weil der Kampf zeitlich nach der Ermordung des Riesenkönigs stattfindet, Eostro zu dieser Zeit also bereits sicher auf der Gehaltsliste der Gräfin Pappel steht – als inszeniert. Haben wir folglich Eostros Bedeutung zu hoch angesetzt? Ist er weniger Geisterfürst und Welttatsache als vielmehr – ein Gorbatschow? Nicht notwendig. Das Gezänk mit der Pappel, es ist, zugegeben, gespielt. Dennoch zeigen sich beide in diesem Streit durchaus als das, was sie ihrer Natur nach sind. Der Dichter desavouiert Eostro nicht: Er sagt über die Pappel und Eostro anläßlich ihres Kampfes: Beide „zeigten sich als das, was sie waren: die Großmächte des Geisterreichs, die Fürstlichkeiten unter den Verallgemeinerungen“ (ebd.). Das Stürmische ist tatsächlich Eostros Natur, und seine Bestechlichkeit geht eigentlich wider seine Natur, wie es gegen sein natürliches Interesse gehen muß, das Reich, das ihm gehört, zu vernichten.

Tatsächlich erleben wir Eostro in zweifacher Gestalt: zum einen als „Welttatsache“ (ebd.), zum anderen als Typus des sozialistischen Führers. Natürlich ist Mehrdeutigkeit bei poetischen Gebilden nicht nur möglich, sondern oft genug beabsichtigt; in diesem Fall bedarf es jedoch keiner umwegigen Erklärungen, um beide Lesarten gelten zu lassen. Es sind, bei Lichte besehen, nicht zweie, sondern eigentlich nur der zweifache Ausdruck derselben Sache. Da die gesellschaftliche Bewegung des Sozialismus, also das, was ihn bestimmt und ausmacht, durch kein blind wirkendes Gesetz geregelt war, sondern von je her das Ergebnis bewußter Tätigkeit, kann der Sozialismus als Welttatsache mit dem personellen Bestand seiner Führungskräfte in gewisser Hinsicht gleichgesetzt werden. Die Verfassung dieser ist ja entscheidend für die Verfassung von jenem. Natürlich regierte im Sozialismus nicht allein der Wille; alles, was sich in der Wirklichkeit durchsetzen muß, muß sich zu deren Bedingungen durchsetzen. Doch der Witz an diesem System ist, daß seine Politik sich weniger aus den vorhandenen Kräften ergibt, als daß sie vielmehr davon abhängig ist, daß sie, d.h. die wirkliche Erkenntnis dessen, was in ihr notwendig ist, das Bewußtsein der beteiligten Subjekte auch durchlaufen haben muß. „Auch wenn“, sagt Hacks folglich, „es für einen Marxisten peinlich ist, es zu sagen, die Figur, die vorne steht, spielt mehr als nur eine Beirolle“.[52]

Eostro, wenn er für die Führer des Sozialismus steht, steht indes nicht für einen bestimmten, sondern offenbar für ihre Reihe, wie sie sich historisch ergeben hat. Seine Auftritte in der Erzählung machen das deutlich. In der Hofszene (144-147) erscheint er als stürmische Gewalt, noch voller Elan und Aggressivität, und als Pedant in diplomatischen Fragen. Man könnte hierin Stalin sehen, wenn nicht die „Weltformel“ (145) wäre, die Eostro dem König vorlegt. Die, wie sogleich noch gezeigt werden soll, verweist bereits auf die Ära Chruschtschow. Eostros Elan und seine Aggressivität spricht nicht gegen diese Lesart; Chruschtschow – alles andere als ein bewußter Saboteur – war für sein Temperament weltbekannt. Wenn seine Politik sich als verhängnisvoll erwies, dann lag das jedoch im besonderen auch an diesem Temperament und seiner zuweilen grenzenlosen Subjektivität. Im Gezänk der Geister über den Wassern (156f.) wird man, wenn man nicht vorzieht, darin eine rein ideelle Begegnung zu sehen, vielleicht etwas derart erblicken können, wie es sich 1962 auf den Weltgewässern zwischen den Schiffen beider Supermächte ereignete. Wie das Gezänk in der Erzählung war auch die Kubakrise eine eindrucksvolle Demonstration gegensätzlicher Interessen, zu einer Zeit, da eine der beiden Seiten bereits innerlich im Verfall begriffen war. Nach diesem Gefecht ist Eostro lange Zeit nicht präsent, und vielleicht kann hierin eine Verkörperung der Ära Breschnew, der mit dieser Phase verbundenen Depression und Status-quo-Politik sehen. Das Wiederauftauchen Eostros (175) bewirkt dann zunächst eine große Hoffnung – Eostro ist „keineswegs müde“ (ebd.) –, erweist sich dann allerdings als eigentliche Wendung zum Untergang der Rübenkolonie. Es fällt schwer, darin nicht die Ära Gorbatschow wiederzuerkennen, die auch zunächst mit einer großen Hoffnung auf die Reformierung, also Bewahrung des Sozialismus verbunden war, sich schließlich aber als deren Gegenteil herausstellte. Der Krieg geht verloren, weil Eostro die Pappelsamen einmal um die Erde bläst, so daß sie den Bauern in den Rücken fallen. Diese hatten mit einem Angriff von der „Ostküste“ (ebd.) her nicht gerechnet und nach Osten hin keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen. – „Die Sowjetmacht, sie schenkte uns das Leben. / Sie hat uns auch den Todesstoß gegeben.“[53]

Eostros Niederlage vollzieht sich in zweifacher Gestalt, nach außen hin ideologisch, im innern pekuniär. Den Grundstein des ideologischen Bankrotts legt Eostro selbst, es ist die Weltformel, die er dem König von Ur als modus vivendi der Zukunft vorlegt. Beiden gehört je zur Hälfte die Welt, keiner soll des andern Reich begehren. Es gilt: Alle Länder, die dem Reich Eostros gegenüberliegen, gehören dem König von Ur, alle, die dem Reich Ur gegenüber liegen, gehören Eostro (145). Nun stellt sich aber auf sonderbare Weise heraus, daß die Erde eine Kugel ist (175), folglich liegen, so erkennt Eostro (176), alle seine eigenen Länder gegenüber seinen eigenen und gehören also dem König von Ur. Eostros Weltformel, die eigentlich der Absicherung der Existenz seines Reiches dienen sollte, entpuppt sich als ideologischer Bankrott. Fragt man danach, wofür jene Weltformel und das, was aus ihr folgt, stehen sollte, so wird man wohl kaum die Frage umgehen können, was der Autor der »Gräfin Pappel« als die wichtigste Ursache derjenigen Politik angesehen hat, die den Untergang des Sozialismus herbeiführte. Die Weltformel in der »Gräfin Pappel« steht, so die Vermutung, die jetzt naheliegt, für die Formel von der „friedlichen Koexistenz“, wie sie seit Nikita Chruschtschow verstanden wurde. „Der moralische Kollaps der KPdSU“, sollte Hacks einige Jahre nach der Abfassung der »Gräfin Pappel«  schreiben, „ereignete sich nach dem Sieg über Hitler, so plötzlich, wie die Krise nach dem Gipfel der Konjunktur sich ereignet. Drehpunkt war der Tag, an dem die Partei erfuhr, daß sie, statt sich dem Ruhm, dem Frieden und dem Wiederaufbau zu widmen, die Atombombe würde zu erfinden haben. Stalin hatte schon einmal die Aufgabe gelöst, einen Rückstand von hundert Jahren in zehn Jahren aufzuholen, und dafür mit den schwersten wirtschaftlichen Opfern und dem schrecklichsten aller Kriege bezahlt; die sowjetischen Kommunisten machten sich ebenfalls an diese Aufgabe, aber in ihren ermatteten Gehirnen nagte die Überlegung, ob nicht der nächste Krieg sich auf irgendeine Weise könnte vermeiden lassen.“[54] Ungeachtet der konkreten Unterschiede von Erzählung und Wirklichkeit finden wir in diesen Worten genau jene Haltung beschrieben, die wir in Eostro und seiner Weltformel dargestellt sehen. Ausdrückt sich hier wie dort der Wunsch nach dem Ende einer fortwährenden Auseinandersetzung, von der man eigentlich weiß, daß sie nicht enden wird, solange beide Reiche nebeneinander bestehen. Jeder Versuch, das lehrt die Fabel von Eostro, dieser Erkenntnis aus dem Weg zu gehen und sich in jener „Lage der wahrscheinlichen Verwicklung und vorauszusehenden Feindschaft“ (144) einzurichten, führt, so sehr man den Wunsch, es sich in ihr wohnlich zu machen, verstehen kann, in eine Politik, die den eigenen Untergang bedeutet. „Es kommt nicht darauf an“, fährt Hacks mit Blick auf die Genossen der KPdSU fort, „daß wir Verständnis dafür haben, daß sie es satt hatten. Die sinnlose Überlegung führte zu einer sinnlosen Hoffnung und die Hoffnung zum Opportunismus.“[55] Ausdruck dieses Opportunismus ist sodann Eostros Rede, die er bei seiner Unterwerfung vor dem „Haus der Bäume“ hält: „Ein Ball … läßt sich nicht teilen, und wer auf einer Kugel bläst, bläst sich ins Genick“ (177). Oft gilt: Je griffiger eine Formel, desto peinlicher der Sachverhalt, den sie verdecken soll. Der Leser, der vielleicht Eostros Rede von dem Hintergrund seiner Handlungen in das rechte Licht zu stellen imstande ist, wird sich, nicht unbelustigt über die besonnen und vernünftig sein sollende Manier dieser Rede, die Frage stellen, wieso eigentlich aus den von Eostro beschrieben Umständen folgen soll, daß dieser sein Reich an den König von Ur und nicht etwa der König von Ur das seine an ihn abtreten soll. Wenn die Weltformel für die Chruschtschowsche Formel der „Friedlichen Koexistenz“ steht, so wird Eostros späte Einsicht (177) für das stehen, was man seinerzeit das Neue Denken nannte und darunter Gorbatschows Außenpolitik verstand. Dessen ideologisches Credo – die immer stärkere Betonung der Notwendigkeit einer gemeinsamen Friedenspolitik, schließlich das Herausstellen der absoluten Priorität dieses Ziels gegenüber der Auseinandersetzung der Weltsysteme – war genauso wenig innerhalb der Partei aus dem Nichts entstanden und hatte in der Politik Chruschtschows und Breschnews Vorläufer, wie es sich, auch affiziert durch die Europa-Ideologie Brzezińskis,[56] die Ostblockpolitik Brandts und die Außenpolitik des späten Kennedy, sukzessive herausbildete. Tatsächlich hatte John F. Kennedy lange, bevor an Gorbatschow zu denken war, den Kern des Neuen Denkens, freilich im Vokabular der amerikanischen Ideologie, zum Ausdruck gebracht: „Never have the nations of the world had so much to lose, or so much to gain. Together we shall save our planet, or together we shall perish in its flames. Save it we can – and save it we must – and then shall we earn the eternal thanks of mankind, and, as peacemakers, the eternal blessing of God.“[57] Das Schlüsselwort lautet: together. Gute drei Jahrzehnte später und im Vokabular der sowjetischen Politik hörte sich derselbe Inhalt so an: „Die Führung der Sowjetunion (hat) sich bemüht, die im Marxismus von Anfang an verankerte Idee der Wechselbeziehung zwischen dem Klassenmäßigen und dem Allgemeinmenschlichen mit Sinn zu erfüllen, wobei den gemeinsamen Interessen aller Völker Priorität eingeräumt wird. Wir sehen die friedliche Koexistenz als universelles Prinzip zwischenstaatlicher Beziehungen und nicht als besondere Form des Klassenkampfes.“[58] Der Sturmkönig selbst beliebte noch im selben Jahr zu verkünden: „Wir sind jetzt in eine Epoche eingetreten, in der dem Fortschritt die universellen Interessen der gesamten Menschheit zugrunde liegen werden. Diese Erkenntnis macht es erforderlich, daß auch die Weltpolitik von der Priorität der allgemeinmenschlichen Werte bestimmt wird. […] Es geht um die Zusammenarbeit, die man exakter als gemeinsame Entwicklung bezeichnen sollte.“[59]

Nudge and wink: Was alle redeten, war nicht dasselbe, was einige dachten. Die Oberfläche der neuen Ostpolitik Kennedys, Brandts usf. war die Sorge um den Frieden; ihr Kern die zwinkernde Verständigung, daß sie ein erhebliches Abbremsen dessen zur Wirkung haben werde, was bislang die hauptsächliche, vielleicht sogar, man denke an die Insel der Riesen, die einzige Tugend der Politiker des Sozialismus darstellte: ihres revolutionären Elans, ihres Anspruches, ihr System durch Arbeit und im Kampf gegen den Imperialismus zu behaupten. Peter Hacks, wenn er gegen den Entschluß der Sowjetführung, die Frage des Friedens über die Frage des Systemkampfs zu stellen, polemisierte, polemisierte nicht gegen den Frieden, der als Ziel für ihn bekanntlich unstrittig war. Wogegen er sich wandte, das war, daß aus jener falschen Ideologie der Gemeinsamkeit von Interessen und Methoden eine Politik der „einseitigen Abrüstungsmaßnahme(n)“[60] folgte, denn natürlich dachte der Westen im Gegensatz zum Osten nicht daran, ideologisch oder materiell abzurüsten.

Eostros ideologischer Bankrott aber, so deutet die Erzählung an (177), sei nicht die eigentliche Ursache der Niederlage. Die liege schnöde darin, daß er sich von der Gräfin Pappel habe bestechen lassen. Seine Ideologie sei die Folge seiner Bestechlichkeit? Diese Erklärung bietet die Geschichte uns an. Allerdings fällt auf, daß man die Weltformel von dieser Erklärung ausnehmen muß. Die Gräfin Pappel und der Sturmkönig Eostro treffen beim Staatstreffen, wo dieser bereits die Weltformel präsentiert, offenbar das erste mal aufeinander; die Bestechung Eostros durch die Gräfin Pappel kann ja schwerlich schon vor ihrem ersten Zusammentreffen in die Wege geleitet worden sein. Was immer sich also sagen läßt über die geistige Entwicklung Eostros, seinen eigentlichen Fehler, der, wie wir gesehen haben, bereits in der Weltformel liegt, hat er gemacht, bevor er in den Dienst der Gräfin Pappel gegangen ist. Und dennoch ist die Lebensgeschichte Philiberts voll Gestalten, die fremdgesteuert handeln; fast alle entscheidenden Drehpunkte der Handlung werden durch Agenten besorgt, die im Dienste Eostros und somit der Gräfin Pappel stehen.[61]

Man muß es akzeptieren: Die Erzählung teilt uns mit, daß der Untergang des Reichs Eostros mehr durch Bestechung und feindliche Agenten und weniger durch strukturelle Probleme verursacht war. Warum eigentlich wirkt die Agenten-These so plump? Nicht, weil sie nicht wahr sein könnte. Wo Politik im Spiel ist, sind natürlich auch Geheimdienste, ist natürlich auch Bestechung im Spiel. Aber das Problem an jener Vorstellung ist, daß sie gezielt unter demjenigen Erklärungsniveau bleibt, das man als fruchtbar bezeichnen kann. Der Sozialismus wurde in der Tat von Teilen seines eigenen Führungspersonals abgeschafft. Das ist ein höchst kurioser Umstand. Wie kommen Menschen, die ihr ganzes Leben einer Sache gewidmet und für diese gekämpft haben, dazu, den Verbleib dieser Sache zu bekämpfen? Wer diese Frage einfach damit beantwortet, daß diese Leute bestochen wurden, beantwortet sie nicht. Er geht der Frage aus dem Weg, ob solches Verhalten vielleicht tiefere Ursachen hat, die in der menschlichen Natur oder in der Struktur der sozialistischen Gesellschaft zu finden sind.[62] Hierin liegt der vielleicht einzige wirkliche Schwachpunkt dieser sonst so beziehungsreichen und gehaltvollen Erzählung, die in ihrer Traurigkeit so ungeheuer wie bewegend ist.

  1. Das Weltreich der Pappel

Eostro also ist geschlagen, überall ist jetzt Pappelland. Wie der Untergang des Reichs Eostro der Welt bekommen ist, erfahren wir in der Erzählung nicht. Aus dem wenigen, das im Laufe der Erzählung über den Wandel im Reich Ur berichtet wird, ließe sich vielleicht ableiten, wie es nunmehr um die Welt stehen müßte. Was wir davon sehen, das ist nur jener seltsam unwohnliche Ort, in dem Philibert seine offenbar letzte Zuflucht gefunden hat, das Salamandermeer. Das Gepräge dieses Ortes erfüllt sich ganz in der Beschränkung und Zuspitzung auf äußerste Gegensätze; das Jahr besteht dort „aus einem einzigen Tag und einer einzigen Nacht“, das Klirren der „Gipfel von gefrorenem Wasser“ konkurriert mit dem „Donnern des feurigen Kraters“ (141). Wo befinden wir uns?

Es ist möglich, diese Landschaft als ein Idealbild des Imperialismus zu deuten. Idealbild, das bedeutet, der reinste Ausdruck seines Wesens. Das Fachwort, das Hacks hierfür hat, ist der „reine Imperialismus“,[63] die vollkommene Reduktion des gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts auf den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, von dem Hacks jedoch sogleich behauptet, daß er ein Idealzustand, folglich in der Wirklichkeit nicht erreichbar ist. Dennoch ist dieser Zustand das, wohin der Imperialismus von sich aus stetig strebt. Der Mittelstand wäre längst zwischen Konzentration und Zentralisation des Kapitals ausgetilgt, wenn er nicht die Angewohnheit hätte, sich immer wieder von neuem zu reproduzieren. Das Salamandermeer stünde demnach für den Gegensatz äußerster Akkumulation und äußerster Bedürftigkeit. Die Frage freilich bliebe, was ein Philibert dann in dieser Landschaft zu suchen hätte. Eine andere Lesart, die vielleicht besser aufgeht, wäre, die Landschaft nicht als Idealbild des Imperialismus, sondern als das Gedankenreich des Dichters zu lesen. Während Philibert noch immer das Salamandermeer zu bleiben scheint, um dem zu entfliehen, was er aus tiefstem Herzen meidet, war das letzte Rückzuggebiet, das Peter Hacks nach 1990 noch geblieben war, sein Geist. Die Gesellschaft, in der zu leben er gewählt hatte, existierte für ihn fortan nur noch in der Erinnerung und in der Hoffnung. So also könnte das Salamandermeer eben dieser ideelle Ort sein. Seine Unwohnlichkeit und die Schärfe seiner Gegensätze hätten durchaus ihr Gegenstück im Geist des Dichters. Ging nicht in dessen Vorstellungen mit dem Verlust des Sozialismus, und im Grunde schon früher, eine Verschärfung, teils auch Vereinfachung des politischen Denkens vonstatten? Ob ihm das in dieser Deutlichkeit bewußt war, ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Zumindest aber wußte er, so viel verrät die „Gräfin Pappel“, daß Unglück vertrottelt (173). Und kein anderer als sein längster Freund war es, der einmal mit Blick auf ihn sagte: Niemand gewinnt ja, wenn er verliert, was er liebt.

IV. Abschluß

Das Wagnis eines abschließenden Blicks auf den Charakter der gesamten Erzählung führt zu einer frappierenden Erkenntnis: Kein Werk von Peter Hacks, in dem so viel Trostlosigkeit und so wenig Aussicht auf Besserung versammelt wäre. Ist die Erzählung gar die einzige Tragödie des Dichters? Alles Tragische, sagt Goethe, basiert auf einem unausgleichlichen Gegensatz. Hacks, der einen solchen Gegensatz in keinem seiner Stücke gestaltet hat,[64] scheint in dieser einen Erzählung einen solchen gefunden zu haben: den zwischen sich und den Unbill seines Lebens. Ein Leben, das sich in erster Linie darstellte als die Zumutung, daß man sich Jahrzehnte später an eben dem Punkt wiederfindet, von dem man aufgebrochen ist. Man denkt an Odysseus. Doch wenn die „Gräfin Pappel“ eine Odyssee ist, dann eine negative. Odysseus wird fort getrieben von der Heimat, erfährt unfaßbare Leiden in seinem Thymos, verliert alles, was er bei sich hatte, und gewinnt heimkehrend – alles. Er stellt, indem er die Oligarchie der Freier zerschlägt, nicht nur den alten Zustand wieder her, sondern hebt diesen auf eine neue, bessere Stufe. Er befreit Ithaka von unzähligen Feinden und Verrätern, und er gewinnt in seinem Sohn, den er verließ, da dieser ein Säugling war, einen jungen Mann und starken wie klugen Thronfolger. Athene, zur vollen Abrundung, stiftet als theos apo mêchanês Frieden auf der Insel, der aufgrund der sicheren Rache der Familien der getöteten Freier nicht zu erhoffen war. Odysseus selbst ist durch seine Erfahrungen reicher und klüger. Wie anders dagegen Philibert! Wovon er auszieht, ist nur scheinbar ein Idyll; es entpuppt sich als Vorhof der Hölle, und wohin er geht, das ist gerade nicht das Leiden, in dem man wächst, sondern das Glück. Die Odyssee, seine Flucht, das wäre eigentlich das Ziel seiner Reise. Aber er leidet, indem er seine neu gewonnenen Ziele ein jedes Mal wieder verliert, und ohne daß seine Seele den mindesten Gewinn davon getragen hätte, langt er am Ende wieder dort an, von wo er einstens aufgebrochen. Nur ist dieses vertraute Alte weder (wie in der „Odyssee“) in besserem Zustand als zu Beginn der Erzählung, noch im selben, sondern in einem weitaus schlechteren. Ob man die „Gräfin Pappel“ daher eine Tragödie nennen kann, mögen andere entscheiden. Wahr aber ist, daß die Traurigkeit in dieser Erzählung einen Grad erreicht hat, der in keinem anderen Werk von Hacks erreicht wurde. Am Ende steht neben dem vollkommenen Verlust der Welt der vollkommene Verlust der Hoffnung.

Warum aber flieht der Held? Es wurde festgehalten, wovor er flieht. Warum er flieht, haben wir bislang nicht mehr als andeuteten können. Ausbeutung, Unterdrückung, Weltkriege – das sind gute Gründe, den Imperialismus abzulehnen. Indessen zeigen etwa Hacksens Absolutismusbild oder seine Vorstellungen vom Sozialismus, daß er Erscheinungen wie Krieg oder Unterdrückung nicht so sehr ablehnte, daß er nicht bereit war, sie gegebenenfalls durch die Zeitumstände zu entschuldigen. Diese Bereitschaft fehlte ihm bei der Betrachtung derjenigen Gesellschaft, in der er geboren wurde, völlig. Man muß die Frage anders stellen: Findet sich bei Hacks ein Grund, den Imperialismus so entschieden zu fliehen, der nicht in seinen Meinungen, sondern in seiner Haltung liegt? Ein solcher Grund wäre in der „Gräfin Pappel“ zu suchen.[65]

Die Pappel hat, wie das Gezänk der Geister auf den Wassern (156f.) bezeugt, eine geistige Seite. Sie tritt demnach in gedoppelter Natur auf: In Ur ist sie Klasse. Gegen Eostro ist sie Geist. Das hat Ordnung. Das Kapital tritt als materielle Größe natürlich nur innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auf, dort also, wo allein es ökonomisch wirksam sein kann. In der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen System hat es nicht dieselbe Art Einfluß wie innerhalb seiner eigenen Gesellschaft, denn im Sozialismus herrschen andere Verhältnisse, an denen das Kapital keinen Anteil hat. Es konnte folglich nur auf zwei Weisen Einfluß auf das sozialistische System ausüben. Zum einen vermittelt durch die Politik, und zwar die Außenpolitik. Zum anderen geistig. Beide Arten von Einfluß sind denn auch in der Erzählung beschrieben: Die Außenpolitik Urs wird im Lauf der Geschichte immer stärker zur Außenpolitik im Sinne der Gräfin Pappel, und Eostro gerät im Laufe der Erzählung immer stärker in die geistige Gefolgschaft der Gräfin. Worin aber besteht der Geist der Gräfin Pappel? Eingedenk der ästhetischen, sittlichen und materiellen Eigenschaften, die ihr in der Erzählung zugeschrieben werden, eingedenk ferner unserer Deutung der Pappel als Sinnbild für das kapitalistische Bürgertum, ist die Pappel lesbar als der reine Geist des Bürgertums. Der zeigt nichts anderes als das Bürgertum von seiner unangenehmsten Seite: mit all seinen gleichmacherischen, instrumentellen, alles dem Profit unterordnenden Tendenzen, dem Einstanzen des Besonderen in endlose Reihen von Einförmigkeiten, der Romantik, dem Liberalismus, der Zerstörung der Vernunft. Die reinste Form des bürgerlichen Geistes ist der Puritanismus, in dem gearbeitet wird, um zu arbeiten und akkumuliert, um zu akkumulieren. – Philiberts Flucht vor der Gräfin Pappel ist letztlich eine Flucht vor der Langeweile.[66] Eine Abneigung gegen die Einförmigkeit, gegen ein Leben, dessen ganzer Sinn nichts anderes als Expansion ist, treibt Philibert weg von ihr. Er findet in der neuen Welt Werte, für die zu leben sich lohnt: Sittlichkeit, Optimismus, Kraft, Schönheit, Vielfalt, Leichtigkeit, Stille, Tiefe, Genuß und Fleiß. Einiges davon besitzt Ur noch, als Philibert sich entschließt abzureisen. Aber es ist bereits im Absterben begriffen, und Philibert wird, so steht es in der Erzählung (148), mit einem Mal klar, daß Ur auf Dauer seiner Desertifikation durch die Pappel keinen Widerstand entgegen wird setzen können. Das Leben im Reich Eostros ist verbunden mit manchem Verzicht und gegenüber dem Leben, wie man es zu Beginn der Erzählung in Ur führt, um etliches mühsamer, aber das, was unseren Helden am meisten abschreckt, ist ein Leben ohne Sinn, und genau das blühte ihm in Ur desto mehr, je zahlreicher die Pappeln dort blühen. Der Sozialismus dagegen war für Hacks ein Gegenstand, der ihm eine scheinbar unerschöpfliche Menge immer neuer Rätsel, Aspekte und Probleme aufgab. Er war für ihn interessant, weil es an ihm Neues zu entdecken, etwas zu verstehen gab. „Ich bin“, schreibt Hacks, „schnell zu langweilen; mich hat immer gelangweilt, über den Imperialismus zu schreiben. Auch über den Faschismus habe ich mir nie ein Wort abgemüßigt. Ich finde diese Gegenstände muffig und verbraucht. Ich käme mir, müßte ich mich mit ihnen bescheiden, provinziell vor.“[67]

Ennui – das ist die Wirkung und die geistige Form der Pappel.

Ennui – das ist, wovor Peter Hacks sein Leben lang geflohen ist.

[September 2008, in: Argos 3, 39-117]

Abkürzungen

HW – Peter Hacks: Werke, 15 Bde., Berlin 2003.

DWF – Peter Hacks / Heinar Kipphardt: Du tust mir wirklich fehlen. Der Briefwechsel (hrsg. v. Uwe Naumann), Berlin 2004.

AEV – Peter Hacks: Am Ende verstehen sie es. Politische Schriften 1988 bis 2003 (hrsg. v. André Thiele u. Johannes Oehme), Berlin 2005.

VK – Peter Hacks: Verehrter Kollege. Briefe an Schriftsteller (hrsg. v. Rainer Kirsch), Berlin 2006.

NÄV – Peter Hacks / Hans Heinz Holz: Nun habe ich Ihnen doch zu einem Ärger verholfen. Briefe. Texte. Erinnerungen (hrsg. v. Arnold Schölzel), Berlin 2007.

GmH – André Müller sen.: Gespräche mit Hacks, Berlin 2008.

 

Noten

[1] HW IX, 139-178 – Zitate aus der Erzählung richten sich nach dieser Ausgabe. Sie werden ohne weitere Angabe direkt im Text durch in Klammern gesetzte Seitenzahlen nachgewiesen.

[2] GmH, 312

[3] Auf eine angemessene Darlegung und Rechtfertigung der dieser Arbeit zugrunde liegenden Methode soll hier verzichtet werden. Im Fall es sich einmal als unumgänglich erweisen sollte, etwas über Grundlage und Methode des Interpretierens von Dichtung überhaupt und im besondern über das Deuten der Hacksschen Werke zu sagen, wird dies geschehen. Einstweilen ist es ratsamer, die Brauchbarkeit der Methode zu zeigen, indem sie angewendet wird, denn daß sie erfolgreich anwendbar ist, ist ihre erste und bei Lichte einzige Daseinsberechtigung.

[4] Es ist zur Begründung dieser Behauptung unvermeidlich vorzugreifen: Die Damen, die Philibert liebt, sind sämtlich repraesentatio mundi, und zwar der wesensmäßigen Eigenheit, auf der die Welt beruht, in der sie leben: Tiny ist sittlich und kraftvoll wie die gesamte Rieseninsel auf Kraft und Sittlichkeit beruht, die Zweigeteiltheit der Halbjungfrau in eine sanfte und eine versaute Hälfte dürfte für das spannungsvolle Verhältnis von Inhalt und Form bzw. Kraft und Maß stehen, das der Natur des Schönen durchaus eigen ist, und die Tochter des Klausners ist gelehrt wie das Umfeld, in dem sie lebt.

[5] Der Begriff des Imperialismus ist ein gern gebrauchter. Hier soll er in dem Sinne verwendet werden, in dem ihn Peter Hacks, der Terminologie Lenins folgend, verwendet: als Bezeichnung derjenigen Gesellschaftsformation, die sich zum Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in West-Europa herausgebildet hat und die auf der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer Monopolstruktur beruht. Der Begriff des Kapitalismus kommt dagegen nicht zur Bezeichnung der Gesellschaftsformation in Frage, weil er streng genommen nur ein Produktionsverhältnis bezeichnet. Diese Unterscheidung ist nicht unwichtig, sie erklärt z.B. die unterschiedliche Bewertung der Entwicklungsmöglichkeiten der bonapartistischen und der imperialistischen Ausprägung des Kapitalismus (s. hierzu III.2).

[6] Die Verhältnisse von Ur unterliegen, wie sich noch zeigen wird, innerhalb der erzählten Zeit einem starken Wandel.

[7] Gesittung meint in der Hacksschen Terminologie ungefähr die allgemeine und eigentümliche Form des menschlichen Zusammenlebens, also das Gesamt der gesellschaftlichen, genauer: ökonomischen und politischen Verhältnisse und Einrichtungen. Dagegen steht der Begriff der Zivilisation ungefähr für das, was oben als Fortschritt oder Stand der Produktivkräfte bezeichnet wurde, während der Begriff Kultur für den in den Einrichtungen und Verhältnissen wohnenden Geist, mithin für das Gesamt der geistigen Formen des Zusammenlebens (Philosophie, Religion, Kunst usf.) steht (s. Zum 60. Geburtstag von Peter Hacks, in: Mitteilungen. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik 4/1988, S. 13). – Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang eine Stelle in der Erzählung (148f.), in der Philibert mit Allan Gagelbusch über den Umstand spricht, daß die »Queen Mab«, das Schiff, auf dem Philibert aus Ur floh, das schnellste Schiff der Welt sei. Allan Gagelbusch erklärt den Erfolg des Schiffs durch die Fortgeschrittenheit der Produktivkräfte: er liege „in der Verstandestätigkeit der Dampfmaschinenbauer von Ur“. Philibert, der sich erinnert, daß das Schiff nicht haltmachte, als er über Bord ging, und ohne Rücksicht auf ihn weiterfuhr, führt den Grund für den Erfolg des Schiffes auf die „Gefühlstätigkeit der Dampfmaschinenbenutzer von Ur“ zurück. Wir haben hier in nuce das ganze Problem des Widerspruchs von Entwicklung der Produktivkräfte und Entwicklung der Gesittung, der für Hacks (s. HW XV, 243ff.) in dem Maße, in dem der Kapitalismus aufkommt, nicht mehr vermittelbar ist. – Zur Handhabung dieser Sachverhalte bei Peter Hacks s. Felix Bartels: »Miteinandersichabfinden«. Zur strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus bei Peter Hacks, junge Welt 21./22. Juni 2008, S. 10f.

[8] Letzteres ist keine Nebensache, da Fortschritt der Gesittung und Fortschritt der Produktivkräfte, auch wenn sie sich insgesamt befördern können, in verschiedenen geschichtlichen Situationen durchaus in Widerspruch zueinander geraten können und die Aufgabe des verantwortlich handelnden Menschen sodann die ist, beide Ziele – Humanität und Produktivität – so weit miteinander zu vermitteln, daß ein erträgliches Verhältnis beider Formen sich herstellt.

[9] Hacks kannte diese Sachverhalte gut und hat sie bei vielen Gelegenheiten klar benannt. Die folgenden Verweise mögen hier hinreichen. Über den Imperialismus: „Die Politik bürgerlicher Regierungen … wird besorgt von den Inhabern einer bestimmten Eigentumsform, welche die Ökonomie Finanzkapital nennt“ (VK, 31). Den Absolutismus bestimmt er dagegen als „bürgerlich-feudalen Klassenkompromiß“ (HW XIII, 9), der Bonapartismus ist eine „Dreikörpergesellschaft“ aus Adel, Bourgeoisie und Proletariat (HW XIII, 314), seine verschiedenen Modelle sind „Staatseinrichtungen, die zwischen den Klassen auf die oder die Art vermitteln“ (HW XIII, 311). Dagegen ist die „Periode des Imperialismus“ davon gekennzeichnet, daß in ihr „die monopolistische Wirtschaft identisch mit dem Staat wird, also die Staatsinteressen gleich den Interessen der Wirtschaft sind und nicht mehr wie früher entgegengesetzt“ (Josef Müller-Marein, Theo Sommer (Hrsg): Schriftsteller. Ja-Sager oder Nein-Sager? Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West, Hamburg 1961, S. 39f., Hervorhebungen im Original – FB).

[10] HW XIII, 9

[11] HW XIII, 141; DWF, 110f.

[12] HW XIII, 552

[13] Im Vergleich hierzu herrscht im Reich des Eostro offenbar eine einfache Einheit von Politik und Ökonomie. Beim Staatstreffen tritt Eostro als Politiker (144f., 147f., 157f.), beim Gezänk über dem Wasser als Naturkraft auf (156f.). Naturkraft heißt bei Hacks natürlich: gesellschaftliche Kraft („Die Natur ist kunstfähig nur, wo die Gesellschaft gemeint ist“ HW XIII, 13; 428; XIV, 7). Eostro ist also zugleich politische Form und Produktivkraft der Geschichte, und diese Einheit von Politik und Ökonomie, von Exekutive und Macht ist eben ein Kennzeichen der sozialistischen Gesellschaft, in der aufgrund der Verstaatlichung der Produktionsmittel wie ihres Ertrags und der Einrichtung einer souveränen Staatsverfassung die nominellen Machthaber auch die wirklichen Machthaber sind. Es gab im Sozialismus keine Klasse, die nach oben strebte und die Staatsverfassung in Frage stellte oder unter ihre Kontrolle zu bringen gedachte. Eostro steht für die Planung und Leitung der Gesellschaft überhaupt, für die Totalität des Sozialismus – er hat an beiden Widersprüchen teil: dem mit dem König von Ur  und dem mit der Gräfin Pappel.

[14] HW XIII, 325

[15] HW XIII, 394

[16] s. Anm. 9

[17] Lieblich komme ihm das Schmatzen der Salamander vor, als der die Sprache Urs vernimmt (142); „und wenngleich er allen Abenteuern oder Ausnahmen abhold war, war er doch rechtschaffen“ (ebd.); „eigentlich kein Freund von Entschlüssen“ (148); er sei etwas menschenscheu geworden (149); „ich selbst mache diese Art Unterschiede nicht mehr“ (150); „so stand er sich finanziell leidlich unabhängig“ (152); „Ich erzähle Ihnen meine Geschichte in der Hoffnung, sie zu verstehen“ (158); „Die Äfferlinge nahmen ihn, obgleich ihm das Äffische abging, für einen der ihren“ (163); „Es ist mir nicht gegeben, mich zu entscheiden“ (164); „Philibert war vom Unglück noch nicht soweit vertrottelt, daß er …“ (173).

[18] Wir verwenden den Begriff hier in der gleichen Unschärfe, in der er gemeinhin, auch von Hacks, gebraucht wird. Kleinbürgertum in der strengen Bedeutung des Begriffs ist die Bezeichnung der einfachen Warenproduzenten, deren Kennzeichen der Besitz von Produktionsmitteln ist, die aber nicht von der Aneignung nicht selbst erwirtschafteten Mehrwerts leben. Diese Bestimmung, in ihrer Schärfe durchgehalten, teilt aber z.B. die soziale Gruppe der Intellektuellen, die zum Teil freie Produzenten sind, zum Teil vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, aber im Grunde einen ähnlichen sozialen Ort und ähnliche politisch-soziale Verhaltensweisen zeigen.

[19] HW XIII, 88

[20] HW XIII, 89

[21] In seiner Interpretation des »Marski« (s.o.) hat Hacks durchblicken lassen, daß er unterschiedliche Stadien der Entfaltung des Sozialismus annimmt. Später sollte sich seine politische Theorie erheblich auswachsen. Auch wenn beim späten Hacks durchaus eine Neigung erkennbar ist, die Probleme der Frühphase der sozialistischen Entwicklung (d.h. der Ära Stalin) mit den Problemen des Reifestadiums des Sozialismus (der Ära Ulbricht) gleichzusetzen, zeugen viele Äußerungen – nicht zuletzt seine Theorie von der Entstehung klassischer Nationalliteratur (HW XIII, 129-132) und seine zweite Fassung des »Numa« aus dem Jahre 2002 – davon, daß er sich der grundsätzlichen Differenzen dieser Epochen durchaus bewußt blieb. Der Zustand, in den Philibert eintritt, ist unverkennbar der der sechziger Jahre und der folgenden Jahrzehnte.

[22] HW I, 207

[23] AEV, 129

[24] HW III, 61f.

[25] zit. nach Peter Schütze: Peter Hacks. Ein Beitrag zur Ästhetik des Dramas, Kronberg/Ts. 1976 S. 200

[26] AEV, 33

[27] Die Theorie ist von verschiedenen Marxisten diskutiert werden, wobei es hauptsächlich um die Frage ging, inwieweit Hacksens Klassenbegriff dem von Marx entspricht (zur Diskussion des Klassenbegriffs bei Hacks s. Kurt Gossweiler, AEV, 141f.; Hans Heinz Holz, NÄV, 18). Vernachlässigt wurde die Frage, was in dem Modell der „sozialistischen Klassen“ zum Ausdruck kommt (zu dieser Frage: Heidi Urbahn de Jauregui: Zwischen den Stühlen, Berlin 2006, S. 259-264; Felix Bartels: »Miteinandersichabfinden«, a.a.O., S. 11).

[28] AEV, 129; 137; 144f.

[29] AEV, 145

[30] AEV, 129

[31] André Müller sen.: Der erste Paukenschlag, 1996 (ungedr., zit. n. Manuskript). Wenn Peter Hacks später (GmH, 371f.) den Erfolg des „Friedens“ desavouiert hat, dann mit Sicherheit nicht aus Genußfeindlichkeit, sondern der politischen Folgen wegen, d.h. des Umstandes, daß das Stück zum Ausdruck eines Rufs nach weniger Politik genommen wurde.

[32] HW XV, 155

[33] Peter Hacks: Über den Stil in Thomas Manns „Lotte in Weimar“, Sinn und Form (Sonderheft) 1965, S. 244

[34] Hacks nennt Fichte einen Vertreter der romantischen Linken (HW XIII, 347).

[35]Hacks nennt in beiden Fassungen seines „Numa“ den jungen Marx, genauer: den Verfasser der „Deutschen Ideologie“, einen „Abweichler“ (s. Peter Hacks: Sechs Dramen, Düsseldorf 1978, S. 141; HW IV, 349). Auf die „Deutsche Ideologie“ nimmt er auch in „Schöne Wirtschaft“ Bezug, wo sie ein Produkt „durchschwärmte(r) Jünglingsjahre“ genannt wird (HW XIV, 316); a.a.O heißt es auch: „Der Marxismus sollte irgendein Mittel finden, sich jugendliche Anhänger vom Hals zu schaffen.“

[36] „Der deutsche Terrorismus ist ein Kind der deutschen Romantik“ (s. Peter Hacks: Neun Jahre später, in: André Müller sen.: Am Rubikon, Köln 1987, S. 411).

[37] HW XIII, 133

[38] Wenig könnte leichter sein als der Nachweis, daß unter den Ewigen Dreien Hermlin, Wolf und Müller vorzustellen seien. Soweit man nicht schon aus ihren bezeichnenden Namen schlau wird, darf hier auf die nähere Beschreibung verwiesen werden, die der Erzähler von den Dreien gibt; darin findet sich einiges mehr an Hinweisen, die wir hier allerdings, da eine nähere Erläuterung als Waschen schmutziger Wäsche, respektive als Spottlust ausgelegt werden könnte, umgehen wollen. Stattdessen sei die betreffende Passage der Erzählung hier ohne Kommentar, aber vollständig zitiert: „Die Wiedergeburt hatte ihren Namen daher, daß sie in einem früheren Leben Richard Wagner gewesen war. Sie glich diesem Ausnahmemenschen vollkommen: in der Art zu denken, in der Art, Schulden zu begleichen, und natürlich in der Statur. Die Tränenfeuchte hatte aus ihren Vorfahrinnen, jenen naiven Töchtern des Tierreichs, die ganze Fülle des Haarwuchses herausgemendelt. Sie hatte Haare im Hintern und auf den Brüsten. Merkwürdig war, daß der Dichter-der-in-seiner-Jugend-usf ihr, obgleich keine Verwandtschaft vorlag,  ähnelte. Hätte er einen Schnurrbart gehabt, hätte er ausgesehen wie sie“ (166).

[39] HW XV, 95f.

[40] AEV, 137

[41] AEV, 129

[42] HW III, 11

[43] Peter Hacks erklärt das Phänomen der politischen Beschränktheit der technischen Intelligenz aus der unterschiedlichen Beschaffenheit des naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Denkens (AEV, 145). Darüber hinaus mag in der besonderen gesellschaftlichen Funktion dieser Gruppe ein Grund für ihre Eigenheiten liegen: Ihr Denken richtet sich ganz auf Leistung und Effektivität der Wirtschaft. Sie funktionieren, indem sie diesen Prinzipien folgen. Die Politik folgt jedoch anderen Prinzipien, die diesen entgegenstehen.

[44] Ein möglicher Einwand gegen die Eingrenzung seiner Tätigkeit auf den Bereich der Gesellschaftswissenschaften wäre wohl, daß beim Klausner und seiner Tochter auch naturwissenschaftliche Dinge betrieben werden. So erstellt die Tochter etwa einen Katalog der Wolkenformen (169). Doch vielleicht deutet das eher die Art der Universalgelehrtheit an. Der Polyhistor steht für die ungeteilte Gelehrtenarbeit, wie sie von den Philosophen seit den Vorsokratikern und Aristoteles bis zu Leibniz betrieben wurde.

[45] Der schleichende wirtschaftliche Verfall, der charakteristisch für die Spätphase der DDR war, ist allerdings, wie man zugegeben muß, in der Erzählung vom Berg Teltow nicht ausgedrückt.

[46] HW I, 265

[47] HW XIV, 484

[48] HW XIV, 486

[49] HW XIII, 261; s. auch: „Numa oder die Mitte“ (HW XV, 175ff.)

[50] 1987 ist mithin das Jahr, in dem Peter Hacks, wie aus seinem Briefwechsel mit André Müller sen. (bislang ungedr.) hervorgeht, Gorbatschows wirkliche Absichten durchschaute.

[51] Hacks ist in dieser Frage allerdings widersprüchlich. Schreibt er z.B., etwas prononciert, im Sommer 2000: „Kein Arbeiter, kein Bauer und kein Wirtschaftsleiter beteiligte sich an der Abschaffung des SED-Staats, freilich eine größere Anzahl von Amtsinhabern von der SED“ (HW XV, 84), so äußerte er im Dezember 1998 gegenüber Kurt Gossweiler noch, daß gerade in dem, was er als Klasse der Spezialisten bezeichnet, die „revisionistische Gefahr“ des Sozialismus liege (AEV, 137).

[52] AEV, 103 – vgl. dagegen sein Urteil über die imperialistische Gesellschaft: „Der USA ist wurst, ob Clinton begabt ist. Der DDR war nicht wurst, ob Ulbricht begabt ist und Honecker unfähig war“ (AEV, 130).

[53] HW I, 335

[54] HW XIII, 537

[55] ebd.

[56] Zbigniew Brzeziński: Alternative zur Teilung. Neue Möglichkeiten für eine gesamteuropäische Politik, Köln-Berlin 1966 – Sahra Wagenknecht hat sich intensiv mit Brzezińskis Strategie auseinandergesetzt (s. Dies.: Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung, Bonn 1995). Peter Hacks war ihre Analyse bekannt (AEV, 113; GmH, 406).

[57] John F. Kennedy: Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, September 1961.

[58] Eduard Schewardnadse: Rede auf der 43. Tagung der UNO-Vollversammlung, September 1988

[59] Michail S. Gorbatschow: Rede vor der UNO-Vollversammlung, 7. Dezember 1988

[60] HW XIII, 426

[61] Über Otto und die Ewigen Drei ist das Wichtigste gesagt; zu Allan Gagelbusch muß wenigstens dies nachgetragen werden: Man fragt sich natürlich, ob auch er einen bestimmten Typus verkörpert. Sein Lebenslauf – vom Sohn des Waldhüters in herrschaftlichen Diensten zum Kapitän eines Hochseeschiffs – erinnert ein wenig an eine Figur eines anderen Märchens: den Vater des Schuhu, der zunächst ein armer Schneider, später selbst Bürgermeister, aber kein Gramm besser als sein Vorgänger ist. Gagelbusch ließe sich also wie dieser als Bild für die Entwicklung der Sozialdemokratie lesen, wenn er nicht selbst angäbe: „ich habe dem Sturmkönig gedient, so wie mein Vater dem Sturmkönig gedient hat“ (178). Nimmt man diese Auskunft ernst, kommt die Sozialdemokratie, die sicher nicht der verlängerte Arm der östlichen Welthälfte war, als Deutungsinhalt nicht in Frage. Sehr in Frage kommt dagegen die DKP, deren Wiedergründung Hacks als revisionistischen Akt auffaßte (HW XIII, 537). Gagelbusch also steht für die Teile der kommunistischen Bewegung im Westen, die den inneren Wandel der östlichen Führung, in deren Diensten bleibend, mitvollzogen.

[62] Bemerkenswert ist jedoch, daß Peter Hacks diese Frage in anderen Zusammenhängen durchaus tiefgreifender zu beantworten wußte. So äußert er etwa seine Zweifel daran, daß Chruschtschow und Gorbatschow hätten bestochen werden können (AEV, 103). An anderer Stelle deutet er den Opportunismus nicht als Resultat von Bestechung, sondern von Bestechlichkeit (HW XIII, 473f.); ferner vermag er gesellschaftlich-psychologische Erklärungen anzugeben (HW XIII, 537) und spart das Problem der gesellschaftlichen Struktur des Sozialismus und ihrer Wirkung auf das menschliche Handeln nicht aus (AEV, 119f.).

[63] HW XIII, 544

[64] Charakteristisch für die Hackssche Dramaturgie ist vielmehr die Triade, d.h. das Gegeneinander zweier Momente eines Widerspruchs, das durch eine über diesen Momenten stehende Kraft fruchtbar gemacht wird.

[65] Es muß, um Mißverständnisse zu vermeiden, hier betont werden, daß das Ziel dieser Überlegung ausschließlich in Bezug auf die „Gräfin Pappel“ veranschlagt ist. Es kann hier schon deswegen nicht darum gehen, die Menge der bedeutsamen Ursachen, aus denen Peter Hacks die BRD in Richtung DDR verlassen hat, zu untersuchen, weil ein solches Unterfangen, ernsthaft betrieben, Gegenstand einer eigenen Abhandlung sein müßte.

[66] In der Tat soll Peter Hacks einmal auf die Frage, warum er die BRD verlassen habe, geantwortet haben, „er habe sich dort entsetzlich gelangweilt“ (s. Armin Stolper: Peter Hacks. Ich zeige an den Verlust eines befreundeten Dichters. In: RotFuchs 6 (2003), Nr. 69, S. 4).

[67] Peter Hacks: Brief an eine Dame in Paris über einen Ort namens Deutschland, In: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas (hrsg. v. Françoise Barthélemy u. Lutz Winckler), Frankfurt/M 1990, S. 30)

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