Jul 182009
 

Der Wert einer Gesellschaft läßt sich darin messen, wie sie mit ihren Werten umgeht, mithin darin, was sie für Werte erachtet. Werte sind nicht nur Zeichen, die sich auf Registrierkassen abbilden lassen. Ein Wert ist immer unersetzbar. Wäre er ersetzbar, wöge er nicht, was er wiegt. Denn nur, was kann, was kein anderes kann, verdient, Wert genannt zu werden. Werte erlangt man seltener, als man sie verteidigt. Jeder geschichtliche Abschnitt – der eine, mag sein, mehr als der andere – hat dem Schatz der Menschheit bisher Werte hinzufügen zu können. Und ein jeder hat mehr Werte von seinen Vorgängern übernommen, als er selbst hervorbrachte. Der vernunftgemäße Zustand der Menschheit ist daher die Verteidigung der Werte.

Die Gefahr, bereits gesicherte Werte zu verlieren, ist groß. Viel größer als man denkt. Es gibt viele Beispiele, an denen man das zeigen kann. Meines ist die Überlieferung literarischer Werte.

Es gibt grundsätzlich zwei Sorten von Überlieferungskatastrophen.

Die eine zeigt sich in solch barbarischen Großereignissen wie dem Brand der Bibliothek von Alexandria, dem Erlaß des Omar ibn al-Khattab, dem Bildersturm im Frühmittelmittelalter, der Vernichtung des Alten Sommerpalastes von Peking durch die Truppen der britischen Armee oder in der Kulturrevolution Mao Tse-tungs.

Die andere Sorte macht weniger her und bekommt daher weniger Beachtung, denn sie läßt sich schlechter verfilmen. Sie scheint mir doch aber mindestens ebenso effektiv. Ich rede z.B. von der Spätantike, in Europa der die Papyri zerfielen, und so viele unschätzbare Dokumente für immer der schließlichen Vernichtung überlassen wurden, weil es innerhalb einer Handvoll von Jahrhunderten niemand für nötig hielt, die Werke von Rollen (Papyrus) auf Kodizes (Pergament) zu übertragen. Deswegen lese ich nur 11 Komödien von Aristophanes statt ihrer 44, nur 7 Tragödien des Aischylos statt ihrer 90. Deswegen besitzen wir von den Philosophen vor Platon und von den zeitgleichen frühen Lyrikern nur ein paar Fetzen. Deswegen werde ich nie erfahren, wie gut Hekataios wirklich war. Kein Altphilologie, der ihn nicht schon mal hatte, den Gedanken: Was wäre, wenn wir sie alle hätten …

Ganz so drastisch geht es heute nicht mehr her. Wir haben die Technologie und damit alle Möglichkeiten der Vervielfältigung, und die wird angemessen genutzt. Beinahe alles, was sich kopieren läßt, ist kopiert oder ist im Begriff kopiert zu werden. (Es gibt da freilich einige Schriften von William Petty, auf denen seine bekloppten Nachfahren bis heute sitzen, ohne daß sie (die Schriften) der Öffentlichkeit bekannt wären.) Aber es steckt doch auch in den Originalen ein unschätzbarer Wert. Als vor ein paar Jahren die Bibliothek von Weimar brannte, gingen unzählige Unikate verloren. Darunter Bücher mit handschriftlichen Notizen von Goethe und Handschriften von Beethoven. Niemand kann das ersetzen.

Ein aktueller Fall von schleichender Bedrohung ist hier beschrieben:

Wenn Klassiker versauern

[…]

„Das Buch ist rettungslos verloren“, sagt Gunther Nickel und wischt ein paar Krümel Edschmid von seinem Schreibtisch. Der Germanist koordiniert im Deutschen Literaturarchiv in Marbach die Versuche, die einzigartigen Bestände zu bewahren: 600 000 Bücher, mehr als 6000 Zeitschriften, die 22 Millionen Blätter der Handschriftenabteilung und ihrer gut 1000 Dichternachlässe. Wie in allen Bibliotheken und Archiven nagt auch an den Schätzen der Schillerhöhe der Säurefraß, der mehr oder weniger alles zwischen 1860 und 1970 zu Papier Gebrachte bedroht. In dieser Zeitspanne wurde fast ausschließlich säurehaltiges Papier beschrieben und bedruckt, und das löst sich nun langsam auf. Ein Blatt im Endstadium, das eben noch Buchstaben, Wörter, Sätze, Liebschaften, Abenteuer festhielt, zerfällt bei der leichtesten Berührung einfach zu Staub und mit ihm die Information, die es trug. „80 Prozent unseres Bestands sind bedroht, wenn wir nicht innerhalb der nächsten zehn Jahre etwas unternehmen“, sagt Nickel.
Etwas unternehmen heißt entsäuern, und das in großen Mengen. Fünf Jahre lang haben sich die Marbacher informiert, Fachtagungen veranstaltet, Firmen im In- und Ausland besichtigt, um herauszufinden, wie das am besten geht. Gunther Nickel hat glücklicherweise mal ein Semester Chemie studiert, da fiel ihm die Mutation vom Germanisten und Zuckmayer-Experten zum Teilzeitfachmann für pH-Werte, Zelluloseketten und Lösungsmittel leichter. Vor wenigen Wochen schloss das Deutsche Literaturarchiv zusammen mit anderen Bibliotheken einen Rahmenvertrag mit dem Zentrum für Bucherhaltung (ZfB) in Leipzig. Dessen Massenentsäuerungsverfahren mithilfe einer nichtwässrigen Alkohollösung überzeugte die kritischen Archivare, die ihre zum Teil einmaligen Werke nicht so ohne weiteres einen Tag lang auf 50 Grad erwärmt, entwässert und in eine geheimnisvolle Chemikalie getunkt wissen wollten. Aber auch die penibelsten Bücherwürmer fanden an den Testobjekten keine Wellungen, keine Verklebungen, sondern nur einen ganz leichten Alkoholgeruch, wenn sie die Nase im Wortsinne ganz tief ins Buch hineinsteckten. Und so kommen nun regelmäßig Mitarbeiter aus Leipzig, räumen in Marbach Bücher direkt aus den Regalen in spezielle Transportkisten, verfrachten sie nach Sachsen, schieben sie in die Entsäuerungsröhre, lüften sie aus, und nach vier bis sechs Wochen stehen die Bücher wieder am angestammten Platz, äußerlich unverändert, innerlich präpariert für die nächsten paar hundert Jahre.

Dem Edschmidschen Dekameron wäre aber auch auf der Leipziger Intensivstation nicht mehr zu helfen. Entsäuerung heißt Bewahrung des Status quo; an industriellen Verfahren zur Papierfestigung und -verbesserung wird zwar geforscht, aber marktreif sind sie noch nicht. Zum Glück steht es längst nicht um alles so schlecht wie um den Edschmid. Der hat einfach überdurchschnittlich viel durchgemacht: Er stammt aus der Bibliothek von Kurt Pinthus, dem Herausgeber der berühmten expressionistischen Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung. Pinthus war 1937 nach Amerika emigriert, kehrte fast 30 Jahre später nach Deutschland zurück und verbrachte seinen Lebensabend in Marbach. Seine Bücher begleiteten ihn auf all diesen Wegen, und Seereisen, Temperaturschwankungen, Klimawechsel tun einem Buch so gut wie unsereinem 20 durchzechte Jahre. Aber selbst die ordnungsgemäße Lagerung bei 18 Grad und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit in den schier endlosen Marbacher Kellern entreißen die sauren Werke nicht ihrem Schicksal, sie zögern es nur hinaus. Das demonstriert Gunther Nickel an den Exemplaren der New Yorker Emigrantenzeitung Der Aufbau: Während die Seiten aus dem Jahr 1952 bislang nur einen zentimeterbreiten blassbraunen Rand aufweisen, empfiehlt sich für die Lektüre der Ausgaben von 1945 schon jetzt, Handfeger und Kehrblech mitzubringen.

Für manche kostbare Zeitung kam die Rettung buchstäblich in letzter Minute

[…]

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