Zwölf Meter im Quadrat, ein Laken, Wein
Und über uns das Weltall stürzt nicht ein.
endet eines seiner schönsten Gedichte. Man wünscht, die Welt wäre wirklich so. Aber das eben ist, was Kunst macht: sie macht uns wünschen. Und sei es nur Glück wünschen wie in diesem Fall dem Rainer Kirsch, einem großen Lyriker, der heute seinen 75. Geburtstag feiert.
Daß hinter dem Lyriker Kirsch auch immer ein Kopf steckte, der ebenso wichtige Gedanken aus seinem Dichten zog wie er auch sein Dichten gedanklich untermauerte, wurde oft übersehen. Zu oft. Vielleicht ist es das traurige Schicksal der Lyriker, daß niemand ihnen glaubt, daß sie hinter ihren Versen auch noch Gedanken haben. Es geistert beim Worte Lyriker im Common Sense weithin das Bild eines ganz naturwüchsigen Poeten um, der seine Dichtung eher intuitiv, ganz ungedanklich, ausschließlich im Affekt hervorbringt und der keiner anderen Reflexionen fähig ist als der allersubjektivsten. Das mag sicher auf manche Kollegen treffen. Auf Kirsch trifft es nicht.
Aus diesem Grund möchte ich den Anlaß des Jubiläums nicht mit einem Kirsch-Gedicht begehen, sondern mit einer theoretischen Reflexion, die Rainer Kirsch im Januar 1980 in einem Interview mit Rüdiger Bernhardt in die Welt gesetzt hat und von der ich meine, daß sie den klassischen Kunstgedanken auf makellose Weise zur Anschauung bringt:
RÜDIGER BERNHARDT: […] die Frage nach den Traditionsbeziehungen. Der Gestus des Überführens von Utopie in die Realität, der zum Marxismus genuin gehört, kommt ja auch aus der Aufklärung; Sie haben in einem Gespräch erklärt, daß Sie sich dieser Tradition am meisten verbunden fühlen. Nun kennen wir verschiedene Begriffe der Aufklärung; könnten Sie Ihren erläutern?
RAINER KIRSCH: Ich habe damals gesagt: der Aufklärung, wenn man sie mehr als Haltung denn als Periode faßt. Trotzdem war das wahrscheinlich voreilig und hat manche dazu gebracht, mich als Aufklärer und Rationalisten einzustufen und zu sagen, ich vernachlässigte die Gefühle. Jemand, der Intellekt und clarté schätzt, muß aber darum nicht notwendig Rationalist sein, und wenn ich den Aufschrei als Kunstmittel und die dumpfe Schreibweise ablehne, heißt das doch nicht, daß ich an der Welt nicht litte oder gefühllos wäre. Nur, brüllen kann jeder; der Dichter aber, finde ich, hat zu artikulieren, wie finster immer ist, was er schildert. Anders: die Beschreibung eines wahnsinnigen Mechanismus im hysterischen Stil hilft dem Mechanismus. Vermutlich hätte ich genauer sagen sollen, daß die Tradition, die mir am meisten bedeutet, die Klassik ist, Klassik in einem sehr weiten Sinn. Auf die Utopie zurückzukommen: Hacks hat, in den „Maßgaben der Kunst„, vorgeschlagen, statt „Utopie“ Ideal zu sagen, weil damit jeder gleich wisse, daß ein Ensemble von Richtwerten gemeint ist, auf die man zugehen kann, die die Menschheit aber nie erreichen wird. Das hat einiges für sich. Mit der Überführung der Utopien in die Realität steht es, wie wir sehen, prekär, und es gibt Gründe anzunehmen, daß die Utopie, die Shelley dem Geist der Stunde in den Mund legt, immer Utopie bleiben wird. Freilich klingt Ideal im Deutschen ein bißchen kalt und schillerisch, so daß man es vielleicht gar nicht mögen möchte, während Utopie eine Aura von Wärme hat, und die Kategorie Hoffnung enthält. Wie immer man sagt: der Dichter hat, glaube ich, diese Utopien oder Ideale als lebendige und in der Tradition befindliche immer wieder in die Gegenwart zu bringen und, ob er sie ausspricht oder nicht, als Vor-Bilder artgemäßen Lebens wachzuhalten; dies wäre ein Stück Amt des Dichters, wie ich es sehe.
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