Jul 092009
 

Folgenden Absatz habe ich mit eigenen Augen im Editorial der Präsentation des Dramen-Kanons von Marcel Reich-Ranicki gelesen:

Gelegentlich hört man, es sei nicht immer ganz leicht, ein Stück zu lesen. Denn der Autor, der doch im Theater die Hilfe eines Regisseurs, der Schauspieler und eines Bühnenbildners in Anspruch nimmt, appelliert beim lesenden Publikum stets an dessen Vorstellungsgabe. Das ist schon richtig, aber die hohe, die ganz große Freude bereitet immer jene Literatur, deren Lektüre auch etwas mühevoll ist. Ob wohl Hegel daran dachte, als er provozierend schrieb, das Drama sei »die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt«?

Ich halte eigentlich gar nicht so wenig von MRR. Er ist ein Literaturkritiker, eine Betriebsnudel also, und verfügt doch trotzdem über ästhetische Maßstäbe. Eine Mischung, die man selten trifft. Eine Mischung aber auch, von der seine Urteile nicht verschont bleiben können.  So sieht man auch hier dieses merkwürdige Beieinander von Richtig und Falsch.

Sicherlich stellt das Drama Ansprüche an die Vorstellungskraft seiner Leser. Aber dieselben Ansprüche stellt doch auch z.B. der Roman. Wenn ich eine lebendige Szene von Shakespeare mit der Beschreibung eines menschenleeren Zimmers bei Stifter vergleiche, weiß ich ehrlich nicht, was anstrengender für die Vorstellungskraft ist. Langweiliger jedenfalls ist letzteres.

Irgendwie nur halbrichtig ist auch MRRs Behauptung, die „ganz große Freude“ bereite „immer jene Literatur, deren Lektüre auch etwas mühevoll ist“. Richtig müßte es heißen: Jede große Literatur bereitet auch Mühe, weil das Ästhetische, wenn es große Ideen in seine Formen faßt, zwangsläufig die Rezeptionskraft des Publikums beansprucht. Es ist aber falsch, wenn man deswegen glaubt, daß alles, was Mühe bereit, auch große Literatur ist, bzw., wie MRR es zu glauben scheint, daß es die Mühe selbst ist, die das Vergnügen bereitet. Vergnügen bereitet der Genuß, was eine Tautologie ist, aber die ergibt Sinn, wenn man festhält, daß der Genuß auch ohne Mühe zu haben ist. Die Trivialliteratur gibt ein Beispiel davon. Die große Literatur ist, was den Genuß angeht, weniger intensiv; sie fügt dem Vergnügen die gedankliche Tiefe und die Bedeutsamkeit der verhandelten Ideen hinzu. Diese Zugabe erhöht den Genuß nicht, sondern vermindert ihn sogar eher, weil der Genuß durch Mühe beeinträchtigt ist und das Kunstwerk nun nicht mehr allein beherrscht. Dergestalt entsteht bei großer Literatur nicht ein größerer Genuß, sondern ein Genuß am Großen. Was die Hochliteratur von der Trivialliteratur unterscheidet, ist nicht, daß sie handwerklich besser gemacht wäre, sondern das ist ihr Ideengehalt, und der ist, wenn er wichtig und tief ist, eben nicht leicht zu haben.

Gänzlich absurd ist dann MRRs Behauptung, daß Hegel „provozierend“ das Drama als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt eingeordnet habe. Provokation ist ein Element des Kulturbetriebs; man tut etwas, von dem man weiß, daß es nicht richtig ist, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Hegels System der Ästhetik fällt kaum unter diesen Vorgang. Ob man Hegels Urteile nun teilt oder nicht, jedenfalls sind sie Ergebnisse zusammenhängender Überlegungen, die nicht beleibig, sondern durchaus abhängig von gewissen systematischen Grundüberlegungen sind. Hegel leitet seine Aufassung zum Drama nicht nur aus der Beschaffenheit dieser Gattung selbst, sondern auch aus der theoeretischen Grundledgung seiner ästhetischen Theorie, die Funktion und den eigentlichen Gehalt der Kunst betreffend her. Man muß schon wirklich Jahrzehnte lang vom Kultur- und Medienbetrieb geprägt sein, um von einer gut durchdachten und begründeten Theorie zu behaupten, sie sei um der „Provokation“ willen geschrieben worden.

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